Buch über Radikalisierung von Muslimen: Ende der Politik durch Religion
Der Psychoanalytiker Fethi Benslama hat den Islamismus auf die Couch gelegt. Nun erscheint sein Essay „Der Übermuslim“ auf Deutsch.
Er kennt Islamisten nicht nur vom Hörensagen, sondern aus eigener Anschauung: Fethi Benslama, Psychoanalytiker und Professor für Psychoanalyse an der Universität Paris-Diderot, blickt auf eine jahrelange Arbeit mit radikalisierten Jugendlichen in der Banlieue zurück und hat sich zudem einen Namen als Fachmann für Islamismus gemacht. Soeben ist sein Essay „Der Übermuslim“ auf Deutsch erschienen, darin beschäftigt er sich mit der Frage, was junge Menschen zur Radikalisierung treibt.
Benslama widmet sich in seinem Buch dem Unterschied zwischen Islam und Islamismus, wobei ihm seine Kontakte zu den Radikalisierten Hilfe leisten. Er interpretiert die Radikalität ganz wörtlich. „So gesehen kann die Radikalisierung als das Symptom eines Wunsches nach Verwurzelung bei denen, die keine Wurzeln mehr haben oder dies so empfinden, aufgefasst werden.“
Dieser Wunsch nach Verwurzelung fällt bei Jugendlichen im Zwischenstadium von Pubertät und Erwachsenenalter, wie man sich leicht ausmalen kann, auf fruchtbaren Boden. Es ist dann kein Wunder, dass zwei Drittel der potenziellen Dschihadisten, so Benslama, zwischen 15 und 25 Jahre alt sind.
Von Gott gefunden
Dabei geht es dem Autor in keinem Moment darum, die Radikalisierung dieser Muslime mit ihrer relativen Jugend zu entschuldigen, sondern allein darum, sie zu erklären und damit besser zu verstehen, wie man sie überwinden könnte. Den Übermuslim kennzeichnet er dabei als einen, der, während der gemeine Muslim noch nach Gott sucht, glaubt, bereits von Gott gefunden worden zu sein.
Benslama legt den Islamismus, den er als antipolitische Utopie versteht, auf die Couch und entlockt ihm dort seine Antriebsstruktur. Die Kränkungen des islamischen Ideals gehen, wie er schreibt, zurück auf die Abschaffung des Kalifats und die Zerstückelung des Osmanischen Reiches im „Schicksalsjahr“ 1924. Dabei verknüpft Benslama in seinem gleichermaßen inspirierten wie inspirierenden Essay die historischen und politischen Fakten mit seinen psychologischen Befunden, etwa wenn er den Heiligen Krieg auch als Suche nach Heilung versteht.
Fethi Benslama: „Der Übermuslim“. Aus dem Franz. v. M. Mager u. M. Schmid. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 141 S., 18 Euro
Der Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft erweist sich dabei als von zentraler Bedeutung. Auf der einen Seite also die organische Gemeinschaft der Muslime („Umma“), auf der anderen Seite das soziale Gefüge der Gesellschaft. Erstere charakterisiert Benslama durch die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Gruppe wie Familie oder Klan, während sich die Gesellschaft durch den Verlust dieser Zugehörigkeit zugunsten von Funktionen, Verträgen und Handel, die Individuen miteinander verbinden, auszeichnet.
Davon, wie und ob Prozesse des Übergangs von einer Form zu der anderen gelingen beziehungsweise vonstatten gehen, hängt für Benslama die weitere Entwicklung ab, wobei er die Komplexität der Wirklichkeit, in der sich die Trennlinien zwischen Gemeinschaften und Gesellschaften verwischen, im Blick behält.
Aufschlussreich. Und erschreckend
Wichtig ist ihm festzustellen, dass das Ziel des Islamismus nicht in der Politisierung der Religion besteht, sondern in der Absorbierung des Politischen durch die Religion: „Das Ende der Politik durch Religion“. Aufschlussreich. Und erschreckend. Doch wer seine Ängste vor den Gefahren des Islamismus lindern möchte, ist bei Benslama ohnehin an der falschen Adresse. All jenen, die an eine Mäßigung des Islamismus glauben, erteilt er eine Absage.
Endlich ist der Wolf wieder heimisch in Deutschland! Das freut nicht jeden. Für die taz.am wochenende vom 25./26. März hat unser Autor mit Biobauern gesprochen, die Abschüsse fordern, und sich ins Revier des Raubtiers gewagt. Außerdem: Hass – warum werden die Rohingya in Birma so erbittert verfolgt? Und: Ein Gespräch mit der Autorin Olga Grjasnowa über Heimat, Religion und Privilegien. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Positiv bewertet der 1951 in Tunis geborene Autor indes den sogenannten Arabischen Frühling in seiner Heimat, dem er das Ende seines Essays widmet. Gut möglich, dass er seinen düsteren Aussichten ein kleinlautes Zeichen der Hoffnung entgegensetzen wollte. Benslama attestiert Tunesien nämlich, dass dort seit der Revolution vom 14. Januar 2011 ein „Wir“ voller Unruhe und Zittern in Erscheinung trete. Es sei zwar ein ängstliches Wir, aber eines, das eher in gesellschaftlicher als in gemeinschaftlicher Form bestehe.
Wohin diese Unruhe und dieses Zittern das Land führen werden, vermag freilich auch Benslama nicht vorherzusagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja