Buch über Merkels Jugend: Die Agitprop-Affäre
War Angela Merkel in der FDJ Agitationssekretärin? Ein neues Buch über ihre Jugend beweist vor allem, dass alte Wessi-Reflexe noch funktionieren.
Im Wahlkampf erfahren Geschichten mit überschaubarem Neuigkeitswert erstaunliche Karrieren. Jetzt erwischt es auch Angela Merkel. Und zwar auf einem Feld, auf dem die Vorsitzende einer konservativ und marktwirtschaftlich geprägten Partei besonders verwundbar ist.
Stand Merkel in ihrer Jugend dem DDR-Regime näher, als sie zugab? Die Story klingt so wunderbar schlüssig, als habe sie sich Peer Steinbrück spätnachts bei zwei, drei Gläsern Pinot Grigio ausgedacht. Merkel, die Teflon-Kanzlerin, lässt die Öffentlichkeit ja gerne im Ungewissen, wenn es um ihre Überzeugungen geht. Da passt der Verdacht einer systemkonformen Haltung in der DDR wunderbar ins Bild. Die Taktikerin Merkel kann alles, auch Sozialismus.
Jedenfalls glauben der Historiker Ralf Georg Reuth und der Journalist Günther Lachmann, die frühe Biografie Merkels müsse ganz neu interpretiert werden. In ihrem Buch schreiben sie, Merkel sei eine Reformkommunistin gewesen, keine unpolitische Außenseiterin.
Als Belege führen sie Zitate von Zeitzeugen an, die nahelegen, Merkel sei an ihrem Institut der Akademie der Wissenschaften „Sekretärin für Agitation und Propaganda“ gewesen. Zudem sei Merkel früh im Demokratischen Aufbruch aktiv gewesen, als dieser noch für einen demokratischen Sozialismus eintrat.
Hui, hui, hui. Sekretärin für Agitation! Da sieht der Otto-Normal-Westdeutsche sie doch mit leichtem Gruseln vor sich, die junge Angela in frisch gebügelter blauer FDJ-Bluse, die ihren Kommilitonen mit erhobener Faust den marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkt einhämmert.
Eine Petitesse
Genau solche – sehr verkaufsträchtigen – Assoziationen ihrer Leser dürften der Grund dafür sein, warum die Bild-Zeitung und der Focus seitenweise Vorabdrucke bringen. Doch der skandalschwangere Unterton ist fehl am Platze, denn die Belege der Autoren sind in etwa so dürftig wie die DDR-Importe von Südfrüchten.
Selbst wenn Merkel früher als gedacht im Demokratischen Aufbruch war, ist dies eine Petitesse und kein Aufreger. Die Organisation, in der sich auch der Pfarrer Friedrich Schorlemmer engagierte, schloss sich schon 1990 der CDU an. Bisher bestünde der Skandal also darin, dass sie etwas früher im eigenen Laden angefangen hätte. Dass der Demokratische Aufbruch im Herbst 89 noch für einen demokratischen Sozialismus eintrat, hatte er mit den anderen Oppositionsparteien gemeinsam.
In diesen aufregenden Monaten vor dem Mauerfall wäre Merkel nicht die Einzige gewesen, die sich einen Zusammenbruch der DDR noch nicht vorstellen konnte. Die böse Funktion der Agitationssekretärin streitet Merkel bis heute ab. Sie will in der FDJ nur Kulturbeauftragte gewesen sein, was schöner klingt, und betont, sie habe „da nie irgendetwas verheimlicht“. Damit steht Aussage gegen Aussage, bewiesen ist nichts.
Nie eine Regimegegnerin
Und auch Funktionen in dem sozialistischen Jugendverband waren oft harmloser, als es für westdeutsche Ohren klingen mag. Agitationssekretäre organisierten FDJ-Sitzungen, bereiteten Themen vor oder moderierten die Diskussion. Manche waren ideologisch überzeugt von dem System, Hundertprozentige. Andere wiederum sahen das laxer und bekleideten Ämter, weil solch gesellschaftliches Engagement gerne gesehen und karrierefördernd war.
Womit wir beim eigentlichen Punkt der vermeintlichen Agitprop-Affäre wären. Angela Merkel war nie eine Regimegegnerin, sie hat dies auch nie behauptet. Stattdessen wählte sie den Weg des kalkulierten Mitspielens. Die Einser-Abiturientin, die in der Schule zur Belohnung zur Russisch-Olympiade nach Moskau durfte, ihr Physikstudium mit „sehr gut“ abschloss und es an die begehrte Berliner Akademie der Wissenschaften schaffte, tat, was die große Mehrheit tat.
Sie arrangierte sich mit der DDR, wissend, dass ohne Billigung des Staates eine steile Karriere nicht möglich war. Im fleischgewordenen Sozialismus wäre sie wohl auch aufgestiegen, wahrscheinlich in der Wissenschaft. Wirklich überraschend ist das nicht für eine Politikerin, die geschickt wie keine andere die Strömungen des Zeitgeistes erspürt.
Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: „Das erste Leben der Angela M.“, Piper Verlag, 2013, 19,99 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben