Buch über Göttingens queere Geschichte(n): „Es war eine zweite Sozialisation“

Auch in einer kleineren Stadt wie Göttingen sind wegweisende Projekte der queeren Bewegung entstanden. Das zeigt der Sammelband „In Bewegung kommen“.

Zwei Männer tragen ein Transparent auf einer Demonstration.

Der radikale Flügel der Bewegung: Die Homosexuelle Aktion Göttingen auf einer Demo zum 1. Mai 1982

„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“: So hieß der Film, mit dem Regisseur Rosa von Praunheim Anfang der 1970er-Jahre die westdeutsche Schwulenbewegung in Schwung brachte. Und das nicht nur in den Großstädten: Bundesweit gründeten sich schwule Aktionsgruppen, 1972 auch eine „Initiativgruppe Homosexualität Göttingen“.

Fast parallel dazu entstanden in der Bundesrepublik die ersten autonomen FrauenLesbenZentren als Räume für Austausch und Selbstermächtigung. An diesen Moment des Aufbruchs erinnert der Sammelband „In Bewegung kommen – 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen“: Die darin versammelten annähernd 40 Beiträge geben Einblick in die Bewegung seit 1972. Der Fokus liegt dabei auf queerem Aktivismus, wie er die Szene über die Universitätsstadt hinaus geprägt hat.

„Das Buch erzählt beispielhaft die Entwicklung der queeren Szene jenseits von Großstädten wie Berlin und Köln“, sagt Hajo Gevers, einer der Herausgeber*innen, der den Band auch lektoriert hat. So schildert ein Beitrag die Geschichte des 1988 eröffneten Göttinger FrauenLesbenZentrums (FLZ).

„In den fünf Jahren des FLZ fanden viele Partys, Kulturveranstaltungen, Demos, politische Aktionen und interne Auseinandersetzungen statt“, schreibt Christiane Mielke, die selbst dort aktiv war. Die Themen der damaligen „hitzigen Diskussionen“ erinnern an so manche aktuelle Debatte: Soll die queere Szene mit Institutionen wie Parteien oder auch der Stadt zusammenarbeiten – oder gerade nicht? In Göttingen war das Thema unter anderem bei den Christopher Street Days Thema in den vergangenen beiden Jahren: Ein Teil der Community sprach sich dafür aus, Parteien einzuladen, ein anderer war entschieden dagegen.

In Bewegung kommen – 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen. Hg. von Klaus Müller, Chriz M. Klapeer, Simone Kamin, Hajo Gevers, Dean Cáceres und Folke Brodersen. Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 352 S., 20 Euro; E-Book 15,99 Euro

Das FLZ wurde trotz aller Proteste im August 1993 geräumt. Andere queere Projekte bestehen bis heute, unter anderem das Tagungshaus Waldschlösschen, dessen Entwicklung Rainer Marbach im Buch beschreibt: Die tatsächlich nahe Göttingen am Waldrand gelegene Bildungsstätte entstand 1981 aus der Schwulenbewegung heraus und war ein zentraler Vernetzungsort während der Aids-Krise; einer Zeit, in der vor allem schwule Männer Stigmatisierung erfuhren und mit Fragen von Leben und Tod konfrontiert waren. Neben weiteren Angeboten im Bereich der queeren Erwachsenenbildung finden noch heute bundesweite „Positiventreffen“ im Waldschlösschen statt.

Wie wichtig selbstverwaltete Räume für die Community waren und sind, das geht aus vielen Beiträgen im Buch hervor, aus Interviews, Berichten und Gesprächen. Darin beschreiben Au­to­r*in­nen und Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen die politische Bedeutung dieser Orte – aber auch die persönliche. „Ich habe das Gefühl, diese Zeit in Göttingen war für mich wie eine zweite Sozialisation, die mindestens genauso wichtig war wie die erste“, sagt eine Aktivistin über die Göttinger FrauenLesben-Bewegung der 80er-Jahre.

Ihre Mitstreiterinnen berichten von Selbstverteidigungskursen, aber auch von informellen Lederjacken-Dresscodes – und einem offenen Treff namens „Lesben und Zimmerpflanzen“. Solche Erzählungen lockern den Band auf und machen die Lektüre kurzweilig. „Wir hatten ursprünglich mit der Hälfte der Beiträge geplant“, sagt Gevers. Das Echo von Initiativen und Menschen aus der queeren Community war dann aber „größer als gedacht“.

Überhaupt, „queer“: Das Wort galt ursprünglich als Beleidigung, bis US-amerikanische Ak­ti­vis­t*in­nen es Ende der 80er- Jahre zur Selbstbezeichnung positiv umdeuteten. „Insofern stellt es natürlich auf den ersten Blick einen Anachronismus dar, von 50 Jahren 'queerer’ Bewegungsgeschichte in Göttingen zu sprechen“, schreiben Chriz M. Klapeer, Folke Brodersen und Volker Weiss. Für die Benutzung des Worts entschieden haben sich die Her­aus­ge­be­r*in­nen trotzdem, denn „queer“ führt Bewegungen zusammen, die ohnehin nicht eindeutig voneinander trennbar sind – etwa Schwulen-, Lesben-, inter*- und trans*-Bewegung.

Erstere sind im Buch präsenter, vielleicht auch, weil sich eigenständige trans*- und inter*-Bewegungen in Deutschland erst Mitte der 90er-Jahre gebildet haben. In einem Interview berichtet trans*-Aktivistin Liv Teichmann von der Gründung der Göttinger Trans*Beratung, inzwischen angebunden ans 2018 eröffnete Queere Zentrum: „Dass es in Göttingen ein Queeres Zentrum und eine Trans*­Be­ra­tung gibt, ist erst der Anfang“, sagt Teichmann, denn Trans*­feind­lich­keit sei weiterhin im Alltag präsent. Und auch in der queeren Szene selbst finden „Benachteiligung, Ausgrenzung und Ignoranz statt“, so Weiss, Klapeer und Brodersen.

In überblicksartigen Beiträgen beschreiben die drei Au­to­r*in­nen die Entwicklung der queeren Bewegung in der Bundesrepublik. Diese vier dichten Texte ziehen sich durch das Buch und rahmen die weiteren. Das ermöglicht es, das Göttinger Geschehen einzuordnen in den größeren bundesdeutschen Kontext.

Die Au­to­r*in­nen nehmen immer wieder auch eine reflexive Haltung ein, wenn sie etwa fragen, wer eigentlich queere Bewegungsgeschichte schreiben kann. Sie stellen heraus, dass auch hier Machtstrukturen wirken und Geschichtsschreibung daher unvollständig bleibt – sogar im eigenen Buch. Die historischen Texte sind auf hohem, akademischem Niveau geschrieben und eher für Le­se­r*in­nen geeignet, die schon Vorwissen mitbringen.

Blick in die Zukunft

Gegliedert ist das Buch chronologisch, wenn auch „nicht streng“, so Gevers. Am Ende bleibt die Frage, wie es in den kommenden 50 Jahren weitergehen könnte. Da stehen auf der einen Seite die bisherigen Erfolge der queeren Bewegung, auf der anderen Seite ihre gegenwärtige Zersplitterung sowie die Bedrohung durch Rechtsextremisten. Brodersen, Klapeer und Weiss blicken vorsichtig optimistisch in die Zukunft: „Queer sein ist weiterhin politisch“, schreiben sie, „es ruht sich nicht aus“ – eine Art Fazit des Buchs.

Der Sammelband trägt dazu bei, queeren Aktivismus sichtbar zu machen und führt Projekte zusammen, die sonst oft nur einzeln Beachtung finden. Die enthaltenen Beiträge zeigen die Höhen, Tiefen und Herausforderungen einer Bewegung – nicht nur in Göttingen. Damit liefert das Buch einen wichtigen Impuls auch für interne Auseinandersetzungen und Visionen.

Zusätzlich zu den Texten gibt es im Buch Fotos aus Göttingens queerer Geschichte sowie eine Chronik. Bis Ende Oktober war im Alten Rathaus der Stadt eine ebenfalls „In Bewegung kommen“ betitelte Ausstellung zu sehen. „Das Buch war aber nicht als Dokumentation gedacht“, stellt Gevers klar, „sondern vertieft Aspekte aus der Ausstellung“. Derzeit laufe noch ein Filmprojekt, um die Ausstellungsinhalte auch online zugänglich zu machen.

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