Buch über Frauen und Naziherrschaft: Der weibliche Blick aufs Exil
Kristine von Soden beschreibt die Emigration von Frauen während der Naziherrschaft. Denn auch Exilgeschichten sind männerdominiert.
„Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben.
Von all den Vielen ist nur er geblieben.
Sonst keiner. Der in Treue zu uns hält.“
Mit diesen Zeilen aus Mascha Kalékos Gedicht „Überfahrt“ beginnt eine grausame Reise, bei der weder das Ziel gesichert ist noch ob die Menschen überhaupt ankommen. In jeden Fall ist es eine erzwungene Reise ohne Wiederkehr, ein One-Way-Trip der Verletzten und Vertriebenen ins Unbekannte.
Die Journalistin Kristine von Soden ist diesen Reisenden nachgefahren – nicht auf dem Schiff, sondern mithilfe von Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungen, mithilfe von Zeitungsausschnitten und Werbeanzeigen. Unter den Reisenden befinden sich frühere Berühmtheiten und Unbekannte. Alle aber sind sie Frauen, die vor dem Naziregime in Deutschland flüchten mussten.
Kristine von Soden: „,Und draußen weht ein fremder Wind'...Über die Meere ins Exil“. Aviva Verlag, Berlin 2016, 239 Seiten, 19,90 Euro
Es ist das Bild einer Welt, die vollständig aus den Fugen geraten ist, das sich dem Leser hier auftut. Von Soden verknüpft das Schicksal ihrer Protagonistinnen mit der immer weiter eskalierenden mörderischen Politik der Nazis: mit Reichsfluchtsteuern, Reiseverordnungen, Devisenbestimmungen, KZ-Einweisungen, dem Pogrom vom November 1938 und schließlich dem „gelben Stern“, der Juden-Kennzeichnung im Jahre 1941, mit der fast zeitgleich die Auswanderung verboten wurde und die Deportationen in den Tod begannen. Solange die Emigration aber überhaupt noch möglich war, lauern den Flüchtenden Unterwasserriffen gleich unbarmherzige Visa-Bestimmungen, zwingende Bürgschaften und verfallende Passagen für ihre neue Heimat auf. Schiffe kommen niemals an ihr Ziel, anderen Ankommenden wird die Einreise verweigert, sie werden weiterverfrachtet auf irgendeine Insel.
In dieser Collage des Schreckens geht das großartige Buch dem Schicksal etwa eines Dutzends Frauen nach. Mascha Kaléko eben, der Dichterin, oder der Journalistin Margarete Edelheim, der Ärztin Hertha Nathorff und der Erfolgsautorin Gabriele Tergit. So verschieden diese Frauen in Deutschland ihr Leben gestaltet haben, so eint sie doch die Verfolgung, aus der sie wiederum höchst unterschiedliche Konsequenzen ziehen.
Manche kehren Deutschland schon 1933 den Rücken zu, damals, als die Ausreisen noch vergleichsweise einfach waren, als sogar die Mitnahme von Großgepäck noch möglich war (auch wenn der Inhalt der hölzernen Container häufig von Salzwasser durchnässt in der neuen Heimat eintraf). Andere warten lange, hoffen auf ein vorzeitiges Ende des Regimes oder glauben, sie könnten ihre Arbeit für die Verfolgten nicht plötzlich aufgeben. Und dann sind da noch diejenigen, die zu lange abwarten, die kein Visum mehr ergattern und kein Schiffsbillett und die in den Mordfabriken umkommen.
Anfangs gibt es noch Wunschziele, das britische Mandatsgebiet Palästina etwa, England oder die USA. Später müssen die Exilierten nach jeder sich bietenden Schiffsplanke greifen, und das Ziel, gleich ob Bolivien oder Schanghai, erscheint immer nebensächlicher – Hauptsache, weg von hier. Auch der Blick auf das Exil während des NS-Regimes ist bis heute vornehmlich von der männlichen Sichtweise geprägt, Frauen kommen dort häufig nur als Reisekameradinnen vor. Von Sodens Buch zeigt, dass diese Ansichten unvollständig sind. Die Tagebuchaufzeichungen, Gedichte und Erinnerungsbücher, aus denen sie zitiert, vermissen alles Großsprecherische und Eitle. Die Berichte dieser Frauen, häufig sind es Ehefrauen und Mütter, die neben ihrer eigenen Existenz auch den Alltag ihrer Familien organisieren müssen, wirken direkter, ehrlicher und oft wenig optimistisch.
Kristine von Soden eröffnet mit ihrem Buch ein Panoptikum des Schreckens, das sich zugleich spannend wie ein Krimi verschlingen lässt. Nur ist dies hier kein Kriminalroman, der erzählt wird, sondern die Geschichte einer Austreibung, die, ohne den direkten Vergleich ziehen zu wollen, an einigen Stellen furchtbar an den Überlebenskampf mancher Flüchtenden in diesen Tagen erinnert.
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