Buch über Einsamkeit: Gesichter der Einsamkeit
Ob Verschwörungstheoretiker, Katholik oder Sängerin: Janosch Schobin zeigt, wie vielfältig Menschen vereinsamen.
Einsamkeit als eine der zunehmenden Gegenwartskrisen – diese These dient Janosch Schobin in seinem neuen Buch mehr als Aufhänger statt als klare Leitfrage. Besser als „Zeiten der Einsamkeit“ würde „Geschichten der Einsamkeit“ als Titel passen. Empathisch und wissenschaftlich-distanziert zugleich gewährt der Soziologe Einblicke in siebeneinhalb Schicksale vereinsamter Menschen in Deutschland, Chile und den USA, an denen er verschiedene Facetten von Einsamkeit aufzeigt.
Pete, ein Verschwörungsanhänger aus New York, lässt Schobin nach dem Verhältnis zwischen Einsamkeit und Politikmisstrauen fragen. John, ein frommer Katholik aus Brooklyn, lässt ihn Einsamkeit mit chronischem Schmerz vergleichen. Das Kaleidoskop reicht von der in Trauerritualen feststeckenden Witwe bis hin zum von seinen Mitmenschen unbemerkt Verstorbenen, den er als halbfiktive Persona nachkonstruiert (daher siebeneinhalb Schicksale). Der öffentliche Umgang mit solchen „Fällen für die Ämter“, die in Deutschland zunehmen, ist persönlichkeitsrechtlich heikel.
Bei der afroamerikanischen Sängerin Dolores, die trotz beruflichen Abstiegs, Krebs und Verlassenwerdens resilient bleibt, lauert kurz die Gefahr des existenziellen Appells ans Individuum: „Tu was gegen deine Einsamkeit!“ Dafür ist Schobin aber doch zu sehr Soziologe, um den Blick für die strukturelle Ebene zu verlieren. Er verneint das Narrativ, dass Einsamkeit vor allem in postmodernen, individualistischen, „westlichen“ Gesellschaften zunehme. Selbst gewählte Bindungen mögen instabiler sein als feste familiäre Netze, doch überwiegen für ihn die positiven Effekte der Modernisierung wie Diskriminierungs- und Armutsabbau. An der Geschichte von Marta, die im Chile des späten 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist und deren Biografie von familiärer und ehelicher Gewalt bestimmt ist, wird die Korrelation zwischen Einsamkeit, Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit in diskriminierenden Systemen grausam deutlich.
Schobin verbindet einen nahbaren Erzählton mit zahlreichen Exkursen in Politik, Psychologie, Philosophie und Geschichte. Der dünne rote Faden des Buchs und die Scheu vor endgültigen Antworten sind zugleich Stärke und Schwäche. Manchmal wünscht man sich mehr Vertiefung, über interessante Querverweise auf Arendt, Goethe oder Freud hinaus. Liest man „Zeiten der Einsamkeit“ als „Erkundung eines universellen Gefühls“, bleibt die Erkenntnis, dass das zu Recht negativ gesehene Gefühl jeden treffen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!