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Buch über Demenz von Walter JensEin Abend über die Liebe

In Tübingen liebt man die Familie Jens. Und Sohn Tilman hat seinen Vater Walter nicht verhöhnt. Besuch bei der versöhnlichen Lesung aus einem von der Kritik zerfetzten Buch.

"Ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm": Tilman Jens über seinen Vater Walter. Bild: dpa

Der Duft von geschmelzten Zwiebeln aus dem Restaurant "Museum" begleitete die vorwiegend älteren Damen hinauf in den "oberen Saal". Neben der Kasse stand ein Mann, der durch seine Haltung (eingezogene Schulter, Kopf schräg gestellt), die abstehenden Ohren und die Zahl der Stirnrunzeln unschwer als Sohn des größten noch lebenden Denkers von Tübingen zu erkennen war: Tilman Jens, Filius von Walter und Inge, Journalist und Buchautor, dessen neuestes Werk "Demenz. Abschied von meinem Vater" die geistige Umnachtung des eigenen Vaters zum Inhalt hat. Kurz vor Beginn der Präsentation hörte Jens auf zu zählen und schaute entspannter auf die sich füllenden Stuhlreihen. "Ich hatte befürchtet, vor nur 30 Zuhörern zu lesen." Eine unbegründete Angst: Der in den Leserbriefspalten des Schwäbischen Tagblatt verbreitete Boykottaufruf der Veranstaltung erwies sich lediglich als Boyköttle. Alle 200 Plätze waren am Donnerstagabend besetzt.

Darf man das?, hatten schon vor Erscheinen des Buches nicht nur besorgte Tübinger Denkmalpfleger gefragt. Darf man den eigenen Vater öffentlich zur Schau stellen in verpissten Windeln und wie er vertrottelt Hasen füttert und Puppen streichelt? Er lebt doch noch. Eine "bemerkenswerte Geschmacklosigkeit" nannte die Zeit das Buch. Schließlich kann sich Walter Jens, der seit mehreren Jahren unter Altersdemenz leidet, nicht mehr wehren. "Vatermord", hatte der Kulturredakteur des Tagblatt geschrieben, sei das. Walter Jens ist Ehrenbürger der Stadt. Noch ist das Bestattungsinstitut nicht beauftragt, da habe ihn der eigene Sohn bereits eingesargt.

Jens stellt in seinem Buch die These auf, der Vater habe sich nach der Entdeckung seiner NSDAP-Mitgliedskarte 2003 in die Krankheit davongestohlen. Zumindest habe die "unendliche Scham" den Krankheitsprozess beschleunigt. Eine medizinisch gewagte Behauptung, jedoch eine, die Tilman akribisch zu belegen sucht. Noch im Besitz seiner geistigen Kräfte hatte der Rhetorikprofessor auf die entsprechende Anfrage durch das Literaturarchiv Marbach zunächst gelassen reagiert - fast ein Jahr vor der Veröffentlichung. "Kurios" nannte er in einer ersten Reaktion seinen angeblichen Eintritt in die Nazi-Partei gegenüber den Autoren des Literatur-Lexikons. Und schwieg ansonsten. Nicht einmal seiner Frau "Häschen" Inge gegenüber erwähnte er die Anfrage, wo er doch sonst jeden Pups mit ihr besprach.

Jens hat sein Buch "Mami" gewidmet, als wolle er mit einem Appell an ihre Mutterinstinkte um Komplizenschaft werben. "Mami" war denn auch gekommen, saß in Reihe eins und ließ erkennen, dass sie ihm nicht böse ist. Wie auch, hat sie doch selbst in einem Interview des Stern den ersten Tabubruch begangen und öffentlich über den bedauernswerten Zustand jenes Mannes geredet, der einmal ihr Mann war und den sie nicht wiedererkennt.

Es wurde ein Abend über die Liebe. Tilman liebt seinen Vater. "Ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm", erklärte er, und als glaube man ihm das nicht, redete der Sohn im selben Duktus wie der Vater: abgehackt und jedes Wort betonend: "Nein, nein, nein, ich wollte ihn nicht klein machen, ich habe unter diesem Vater nicht gelitten." Das liest sich in seinem Buch nicht immer so: "Beglückend oft" sei er als Kind auf sich alleine gestellt gewesen. Kann man es beklemmender ausdrücken? Und wer seinem neunjährigen Sohn abends am Bett lieber philosophische Vorträge hält, als mit ihm zu spielen, gehört der nicht zu Recht ermordet? Schriftlich jedenfalls? Fragen, die im Duft der geschmelzten Zwiebeln untergingen. Selbst kritische Geister unter den Zuhörern waren nach der Lesung versöhnt: "Ich bin überwältigt, wie viel Wärme ich hier gespürt habe", sagte eine, die wie fast alle im Saal Walter Jens "in guter Erinnerung behalten möchte".

Ja, die Tübinger lieben Jens, egal mit welchem Vornamen. "Wir lieben die Familie Jens!", rief eine reifere Ur-Exstudentin nach Ende der Lesung beglückt aus, und eine andere bedankte sich "ausdrücklich dafür, dass Sie ein Lesepublikum teilhaben lassen an einem schmerzhaften Prozess". Heutige Studenten sah man keine.

Man wollte sich schon am Händchen fassen, da stand ganz hinten ein grobschlächtiger Mann auf. Er sei wohl der einzig Nichtstudierte hier im Raum, grummelte er ins Mikrofon. Taxifahrer sei er und Walter Jens für ihn ein "ganz normaler Mensch". Er wollte wohl sagen: Idiot. Der habe ihn vor zwanzig Jahren einmal eine halbe Stunde warten lassen und sich dann auch noch über ihn bei der Taxizentrale beschwert. "Die Lobhudelei" über so einen ging ihm "schon immer auf den Sack".

Das passte irgendwie nicht hierher, musste aber wohl einmal gesagt werden. Walter Jens hätte diese ungefilterte Stimme von "vox populi" mit Sicherheit gut gefallen. Ja übrigens, was tat er eigentlich an diesem Abend? Wer passte auf, dass er nicht ziellos durch sein Haus geisterte? Seine private Pflegerin war jedenfalls nicht bei ihm, sie saß in Stuhlreihe eins.

Wir wissen es nicht. Die Eintrittsgelder des Abends gingen auf Wunsch von Tilman Jens an die Alzheimer Angehörigen-Initiative Berlin.

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3 Kommentare

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  • MM
    Matthias Mersch

    Da man ja nur über die Toten nichts Schlechtes reden soll, kann ich leichten Herzens der Einschätzung des Taxifahrers zustimmen, denn sie harmoniert mit dem Bild, das ich von Walter Jens gewonnen habe: ich bin ihm nur zweimal persönlich begegnet, vor ungefähr 25 Jahren. Einmal bei einer Sitzung des „Kleinen Senats“ der Universität Tübingen, das andere Mal in einem Vortrag. Mein Eindruck über seinen Beitrag zur akademischen Selbstverwaltung beziehungsweise zu deren traurigen Resten in der Regentschaft des Präsidenten Theis: inkompetent und selbstverliebt. Mein Eindruck über seinen Beitrag zur Weltweisheit: verblasen und eitel. Was ich von ihm las, war nicht lesenswert. Mag sein, dass er ein begnadeter Universitätslehrer gewesen ist, ich aber spürte kein Verlangen nach seinen Vorlesungen und Seminaren.

  • JP
    Joachim Petrick

    Lieber Herr MAUSSHARDT,

    selbst ein Abend über die Liebe, wie in diesem Falle der Familie Jens in Tübingen, im Falle des Sohnes, des Vaters, der Mutter samt eilig heiligem Geist auf der Suche nach Wahrheit und Klarheit, kann den fehlenden Glanz im Auge des Gegenübers nicht ersetzen!?

    Wer verweigert hier wem den Liebesdienst, den Glanz im Auge des Gegenüber, der Vater dem Sohn, der Sohn dem Vater, die Mutter dem Sohn, der Sohn der Mutter, die Gattin dem Gatten, den sie angeblich einmal hatte, der Gatte Walter der Gattin Inge?

    Tilman Jens bricht illegitim in die innere Welt seines Vaters, Walter Jens ein, wie einst in die Wohnung des gerade verstorbenen Uwe Johnson 1984 in Sherness/Irland, um Material für eine Reportage im Auftrag des Stern zu sichern.

    Den Einbruch in die Wohnung des verstorbenen Uwe Johnson empfindet Tilman Jens heute aufgeräumt als Fehler seines Lebens.

    Den Einbruch in die "Innere Welt seines Vaters, Walter Jens, stellt Tilman Jens dagegen als legitim dar, weil es hier um das angeblich berechtigte öffentliche Interesse an dem Thema Demenz im Alter gehe.

    Um das öffentliche Interesse drastifizierend zu unterstreichen, erfindet und konstruiert Tilman Jens den prekären Begriff "Politische Demenz" am Beispiel seines Vaters, dem er die Berechtigung eines Lebens als Rhetorikprofessor unter dem rhetorisch befruchtenden Gebot des "Vielleicht", des "Peutetre", des "Sowohl als auch" als Motor seines Schaffens fundamental abspricht.

    Dieses Bekenntnis seines Vaters zum Leben im "Vielleicht" identifiziert der Sohn Tilman Jens rigoros als Stück hin zur Selbstabschaffung, Vernichtung von Identität in der Person seines Vaters Walter Jens.

    Das erst habe seinen Vater in die Depression geworfen, diagnostiziert Sohn Tilman Jens kühn wie selbstgewiss, irgendwem, irgendwas auf der Spur zur Lösung letzter Rätsel über „Demenz“ in unserer Zeit!?

    Dabei war Walter Jens zeitlebens im "Vielleicht" ein Täter, ein Mörder, ein Nazi, ein Opfer, ein Widerständler, ein Jude, ein Kommunist, ein Kapitalist, Torwart beim Elfmeter, Libero, Stürmer Linksaußen, Rechtsaußen, Vater, Gatte, Kind und alles zugleich, um sich rhetorisch auf Betriebtemperatur zu bringen.

    Was soll da ein „kurioser“ Nachweis über die Mitgliedschaft des neunzehnjährigen Walter Jens in der NSDAP mehr an "Vielleicht", "Peutetre" im Leben eines Rhetorikprofessors Walter Jens in der vollen Blüte seiner geistigen Kraft mit über achtzig Jahren verheißen?

    Weiss der Sohn so wenig von seines Vaters Leidenschaft an der Wissenschaft der Rhetorik?, die schließlich sogar Gattin Inge Jens und Co-Autorin ihres Gatten Walter Jens in ihrer Unabdinglichkeit des Forscherdrangs im "Vielleicht" grundlegend verstört.

    Sind die Himmel der Rhetorik über dem Hause Walter Jens zusammengebrochen?, weil der Sohn dem Vater, der Vater dem Sohn, die Gattin dem Gatten, der Gatte der Gattin, der Sohn der Mutter, die Mutter dem Sohn unvermittelt den Glanz im Auge des Gegenüber entzogen, unbefristet verweigert?

    Wer von einem Rhetorikprofessor, wie Walter Jens, die Aufgabe, die Preisgabe seines Lebens im "Vielleicht" für ein Linsengericht gewagter "Bestimmtheit" eines kuriosen Belegs seiner einstigen Zugehörigkeit zur NSDAP fordert, fordert der nicht das Verstummen seiner Profession und Leidenschaft?

    Ist der Sohn Tilman Jens da Opfer der Fallensteller, der historischen Taschenspieler- Tricksereien, die erst die Deutung der Geschichte umbauen, dann die Geschichte selber umschreiben wollen?

    Günter Grass hat selber 1962 in der Schweiz in einem Interview offen über seine Zugehörigkeit als Siebzehnjähriger zur Waffen- SS gesprochen.

    Was hätte Dieter Hildebrandt, was Jürgen Habermas über Mitgliedschaften zu Körperschaften der NSDAP verschweigen wollen, was nicht jeder wusste, der es wissen wollte?

    Das hat damals bis 1967/68 Niemand vom heimischen Ofen weg hin zu den Medien gelockt. Warum?, weil bis etwa 1968 hinsichtlich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen im Namen des Deutschen Volkes in der Vorstellung einer allgemeinen Kollektivschuld kein Unterschied gemacht wurde, ob eine Person in der NSDAP war oder nicht, ob eine Person der SS/SA, der Reichs- Polizei, -Post, -Bahn oder der Deutschen Wehrmacht angehörte. Es reichte Deutscher zu sein, um schuldig zu heißen!?

    Erst durch das verlegerisch ambitionierte Unternehmen "Komplex "Joachim Fest" mit seiner Hitler Biografie, seinen Büchern über die NS- Zeit mit Albert Speer als Spitze der "Gute Nazi", um der Geschichte in ihrer Umdeutung eine Lanze zu brechen, wurde die einfältige Idee genährt, dass die wirklich guten Deutschen von 1933- 45 nicht in der SS/SA, NSDAP waren, sondern im Befehlsnotstand reiner Pflichterfüllung unter der Obhut der Deutschen Wehrmacht standen.

    Mit einem Mal ging es nicht mehr um Söhne des Krieges im Allgemeinen, egal welcher Körperschaft der Deutschen Wehr sie angehörten, wie nach dem Ersten Weltkrieg, sondern um die Zughörigkeit zu den „Reinen", den Soldaten/innen der Deutschen Wehrmacht, Wehrwirtschaftsführerschaft wie Albert Speer oder den "Verbrechern" in der SS/SA, GESTAPO.

    Über diese einfältige Vorstellung von verbrecherischer Verstrickung im NS- Regime hat bis heute nicht einmal die in den neunziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts vom Hamburger Institut für Sozialforschung des Professors Jan- Philipp Reemtsma organisierte mobile Ausstellung über die "Verbrechen der Deutschen Wehrmacht" hinweghelfen können.

     

    Dass es womöglich einiger Standfestigkeit bis 1967/68 bedurfte, angesichts allgemeiner Veteranen- Mentalität unter Kollegen/innen in Administration, Institutionen, Schulen, UNIs, Unternehmen, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Kultur, Sport, Stiftungen nicht anekdotisch wie bekenntniswütig, Zugehörigkeiten zu Körperschaft der NSDAP als Lippenbekenntnis offenbarend zum Besten zu geben, geht bei dieser Art Umdeutung der Geschichte erwartungsgemäß heillos verloren.

    Bei solcher Art Deutungshoheit über unsere Geschichte, wird, indirekt wie direkt, Zeitzeugen nahe gelegt, auf ewig zu verstummen. Ist das die „politische Demenz“, die Tilmann Jens rätselhaft dunkel bis ins intimste „Kuriosum“ beschreibt?, deren Opfer sein Vater Walter Jens wurde?

    Ist Professor Walter Jens verstummt, weil ihm der Glanz im Auge des Gegenüber versagt wird, weil er nicht Komplize einer Umdeutung unserer Geschichte des "Unabdinglich" fern von jedem "Vielleicht" sein will?

    Fehlt es heute an Hand- , Gedankenreichungen einer abwesenden Erinnerungskultur bei des historisch biografisch Gedanken Fluges assoziativer Bahn aller Beteiligten?,

     

    Dabei redet Walter Jens brillant weiter in Mimik, Gesten, kreatürlicher Zugewandtheit im Alltag, nun bis auf weiteres wie in einem Stummfilm vor der Erfindung bzw. Ausgrabung des Tonfilms!?

    tschüss

    Joachim Petrick

  • AR
    A.S. Reyntjes

    Der alt gewordene Prophet Samuel übe® sich selbst:

    "Bin alt und grau geworden."

    (1 Sam 12,2)

     

    Aus der neuen Übersetzung "in gerechter Sprache":

    "Ich aber, ich bin alt und grau geworden, und meine Söhne, ja, die sind bei euch."

    (Gütersloh 2006. S. 475)