Buch über DDR-Geschichte: Mit Mutti zum Kaffee bei Egon Krenz
Zu Gast bei der ostdeutschen Volksgemeinschaft: Katja Hoyers viel diskutiertes und seltsames Buch „Diesseits der Mauer“.
Am Ende dieses Buchs, das der Verlag als „Eine neue Geschichte der DDR“ anpreist, finden sich unter den Danksagungen, die unter anderem dem Agenten und der PR-Managerin der Autorin sowie „meiner Twitter-Community“ gelten, auch diese Sätze: „Mutti opferte für mich ihr Wochenende und fuhr mich zum Kaffeetrinken mit Egon Krenz an die Ostsee. Papa durchstreifte mit mir einen Tag lang die Waldsiedlung, wo wir gemeinsam zuordneten, wo einst welcher Politiker gewohnt hatte.“
Mutti war zu DDR-Zeiten Lehrerin gewesen, Papa ein NVA-Offizier; die Tochter, Jahrgang 1985, lebt indessen seit langem in Großbritannien, kommentiert für die BBC, schreibt für die Washington Post und forscht am Londoner King’s College. Katja Hoyer sieht sich dabei wohl eher als meinungsstarke Historikerin denn als skrupulöse Soziologin, was ihrem zuerst auf Englisch und nun auch in deutscher Übersetzung erschienenem Buch „Diesseits der Mauer“ nicht unbedingt gut tut.
Katja Hoyer: „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023, 592 Seiten, 28 Euro
Die Tochter eines Systemträger-Ehepaars schreibt nämlich keine ostdeutsche Version von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ oder gar ein Post-DDR-Pendant zu Bernward Vespers 1977 posthum veröffentlichtem Kultbuch „Die Reise“, in dem mit der NS-Elterngeneration vernehmlich abgerechnet worden war.
Mutti und Vati und deren Milieuprägungen werden nicht im Geringsten kritisch befragt, stattdessen findet sich über den einst in Strausberg stationierten Militär folgendes: „Alles in allem machte Frank seine Arbeit Spaß, aber es war auch klar, dass sie zunehmend politisiert wurde.“
Deutsche Rechtfertigungskontinuität
Katja Hoyer: „Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990“. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023, 592 Seiten, 28 Euro
Sieh an: „Zunehmend politisiert“ – und das in der NVA! Vielleicht könnten ja zukünftige Mentalitätshistoriker fündig werden angesichts solch deutscher Rechtfertigungskontinuität: Die Armee als mehr oder minder „sauber“, wäre da nur nicht die vermaledeite Politik und das intrigante Treiben derer da oben, in deren Fänge dann ein bisschen sogar Mutti und Papa geraten waren.
Dabei lässt es Katja Hoyer durchaus nicht an Anklage fehlen: „Geschichte wird von Siegern geschrieben, auch die der DDR.“ In immer neuen Formulierungen wird einem nicht näher spezifizierten Westen der Vorwurf gemacht, die DDR bislang nur als graue russische Kolonie wahrgenommen zu haben. Quellenangaben zu diesem Pauschalvorwurf sucht man vergebens.
Dabei wäre es im Gegenteil reizvoll gewesen, jenes permanente national-konsensuale Schönreden des SED-Staats zu dokumentieren – von den Weichzeichnereien der einstigen bundesdeutsch-linksliberalen Starpublizisten Günter Gaus und Marlies Menge bis hin zu den gegenwärtigen Auslassungen der AfD, wo man die „preußische Zucht und Ordnung“ des Mauersystems weiterhin ganz formidabel findet.
Nicht zu vergessen Bundeskanzler Kohls und seines damaligen Innenministers Schäuble Skepsis gegenüber der Öffnung der Stasi-Akten, die dann schließlich vor allem von ostdeutschen Bürgerrechtlern durchgesetzt wurde.
Eine Verschwörungstheorie
Hoyers schräge Verschwörungstheorie wird dann freilich von ihr selbst auf nahezu jeder Seite widerlegt, denn „neu“ an ihrem Parcours zur DDR-Geschichte ist lediglich die Form: Ein Buch nämlich, das sich in seinen Fakten und Daten auf zahlreiche und bereits seit Langem veröffentlichte Forschungen stützt – und zwar aus Ost und West.
Von einem dreisten Plagiat lässt sich dennoch nicht sprechen, denn die Quellen werden am Schluss durchaus genannt: Von Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ und Andreas Petersens Untersuchung über die stalinistischen Täterbiografien der aus Moskau nach Ostberlin übergewechselten ersten Generation der SED-Elite bis hin zu den Alltagsanalysen des (ostdeutschen) Historikers Stefan Wolle.
Selbst die recht vergnüglich zu lesende Passage über DDR-Jeans bezieht ihre Details aus einem anderen Buch, das bereits vor Jahren im Christoph Links Verlag erschienen war.
Die chronologische Darstellung der vier DDR-Jahrzehnte ist damit weder neu noch originell, jedoch auch – zumindest solange sich die Autorin an die Veröffentlichungen anderer hält – keineswegs verharmlosend. Stasi, fehlende politische Grundrechte und staatliche Repression werden sehr wohl thematisiert, wenngleich in geradezu mechanischer Eilfertigkeit mit einer vermeintlichen Systemlogik des Kalten Kriegs erklärt oder in Beziehung gesetzt zur Tatsache, dass unter allen kommunistischen Staaten in der DDR immerhin der materielle Lebensstandard am höchsten war.
Staatlicher Rassismus
Dabei wird allerdings, als lägen hier nicht bereits zahlreiche Forschungsergebnisse vor, der Rassismus gegenüber den auf Staatsbefehl isoliert lebenden ausländischen VertragsarbeiterInnen ebenso geleugnet wie vom hohen Frauenanteil in der „sozialistischen Produktion“ auf eine wirkliche Emanzipation kurzgeschlossen wird.
Die InterviewpartnerInnen, die Katja Hoyer – offenbar nun in Eigenregie – gefunden hat und die von ihr im Guido-Knopp-Stil am Beginn eines jeden Kapitels in ihren Lebensabschnitten vorgestellt werden, sprechen dann von all dem: Von Freud und Leid der Nichtprominenten, von beruflichen Aufstiegschancen und ökonomischer Malaise, hinzu kommen noch die Erinnerungen des DDR-Schlagerstars Frank Schöbel.
Die Autorin selbst zieht folgendes Resümee: „Die Bürger der DDR lebten, liebten, arbeiteten und wurden alt.“ Diese himmelstürzende Erkenntnis möchte die Autorin nun endlich auch im wiedervereinigten Land implementiert wissen, „um die deutsche Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln“.
Dem bisherigen Medienecho zufolge, in dem diese in entscheidenden Passagen völlig unreflektierte Publikation als „wichtiger Debattenbeitrag“ gelabelt wird, scheint die Freude aufs Abschütteln jedenfalls enorm zu sein. Vielleicht sollte der publicity-emsige Verlag als Spoiler noch hinzufügen: Für alle LeserInnen von Sahra Wagenknecht und Richard David Precht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz