Buch „Digitale Demenz“: Keinen Plan vom Netz
Computer und Netz wären keine Teufel – wenn Kinder in der Schule auf die digitale Welt vorbereitet würden, sagt Manfred Spitzer. Sein Buch leistet dazu keinen Beitrag.
BERLIN taz | „Computer bringen uns und unsere Kinder um den Verstand.“ So hämmert es uns Manfred Spitzer Seite für Seite in seinem neuen Buch „Digitale Demenz“ ein. Das Internet scheint für ihn nichts als eine weitere unkalkulierbare Parallelwelt mit vielen Risiken zu sein. Und der Computer ist für Kinder die Eintrittspforte in diese Welt.
Ähnliche Thesen musste ich vor anderthalb Jahren in meinem Kollegium diskutieren. Damals wollten wir an der Kaiserin-Augusta-Schule (KAS) in Köln ein Tablet-PC-Projekt beginnen. Die Kritik war für mich nachvollziebar – denn eine Wunderwaffe, um Bildung zu revolutionieren, sind Computer sicher nicht.
Aber so einfach und vor allem so eindimensional, wie Manfred Spitzer es darstellt, ist es gerade nicht. Der Computer, genauer die vielen Geräte, mit denen wir heute ins Netz gehen können, sind weder „neue Medien“ noch Teufelszeug. Schon gar nicht, wenn man in der Schule mit ihnen verantwortungsvoll umgeht – und kreativ.
Spitzers Beispiele aber haben mit „neuem Lernen“ nichts zu tun. Welchen Sinn macht es, ein Smartboard genau wie eine Kreidetafel als frontales Medium für Anschriebe zu nutzen? Eine technologiegestützte Veränderung der Lernkultur lässt sich durch solchen Medieneinsatz, der nur die alten Lernmedien Tafel, Buch, Schere und Stift nachäfft, nicht erzielen. Spitzer kennt eben nur diesen Import alten Lernens in die aktuellen Medien – etwa wenn er fragt, was es bringe, „mit elektronischen Griffeln auf einen schrägstehenden Laptopbildschirm zu schreiben“.
Einprägen und abschreiben
Wenn man das Netz produktiv nutzt, dann wird es auch den Verstand fordern. Oberflächlicher Konsum hingegen selbstverständlich nicht. Genau hier liegt aber das pädagogische Potenzial: Dass Schüler lernen, Inhalte produktiv und ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend zu gestalten. Dabei selbstbestimmt vorzugehen und sich auch Fragen, Ziele und Antworten selbst zu stellen. Manfred Spitzer ist sich dieser Möglichkeiten ganz offensichtlich gar nicht bewusst. Wenn er vom Netz spricht, geht es stets ziemlich diffus zu. Konkret nennt er nur Google Search und Facebook. Von den kollaborativen Möglichkeiten des Web 2.0 spricht er nicht. Beim Lernen geht es ihm oft um „einprägen“ oder „abschreiben“.
Bei den Lernenden an Schulen sieht es ähnlich aus. Einen eigenen Blog oder Wiki, Twitter oder gar Google-Plus haben wenige. Inhalte werden, wenn überhaupt, vor allem auf YouTube erstellt und geteilt. Genau da liegen aber die konkreten Kompetenzanforderungen, denen sich Lehrende und Lernende stellen müssen. An unserer Schule nutzen wir Weblogs und Wikis im Unterricht – mit wachsendem Erfolg.
Im Projekt „mobiles Lehren und Lernen mit Wikis und Tablets“ wird das Internet aktiv in Schule und Lernen eingebunden. Das bedeutet nicht – wie bei Spitzer –, „kurz und oberflächlich etwas zu recherchieren“. Es geht um kritisch-analytische, verantwortungsvolle und konstruktive Mediennutzung. Die Lernenden erstellen Content auf der schuleigenen Wikiplattform. Sie arbeiten auf Blogs projekt-, produktorientiert und selbstbestimmt zusammen. So werden Fakten in einen fachlichen Zusammenhang gestellt und durch konkrete Praxis und Produktion besser verinnerlicht. Als Ausgangsbasis erhalten die Lerngruppen zum Beispiel Links zu Texten, YouTube-Videos, Bildern oder Audiobeispielen, die durch die Lehrenden auf der Wikiplattform für die jeweilige Stunde oder Unterrichtsreihe bereitgestellt werden. Dieser Materialpool ersetzt das Arbeitsblatt.
Gemeinsam im Netz
Mit dem von Spitzer zelebrierten oberflächlichen Überfliegen und Kopieren hat dies nichts gemeinsam. Mit Papier und Bleistift lassen sich solche gemeinschaftlichen Arbeitsweisen nicht abbilden. Hier bieten Netz und Computer oder mobile Geräte einen Mehrwert auf dem Weg zu einer neuen Lehr- und Lernkultur.
Besonders amüsant für mich als @tastenspieler und Musikpädagoge sind Spitzers Bemerkungen zum „digitalisierten Musikunterricht“ – ein mir bis dato unbekannter Begriff: „Schüler, die eigentlich Klavier spielen können, tun sich beim Musizieren auf elektronischen Keyboards schwer. Man kann den Ton nicht richtig kontrollieren, das Gerät spielt allein, was demotivierend wirkt, und der Klang ist oft jämmerlich.“ Wahrscheinlich hatte ich spezielle Keyboards im Einsatz – aber die Schüler waren begeistert davon. Ich spiele lieber auf einem gestimmten Keyboard als auf einem verstimmten Klavier. Und was wäre Jimi Hendrix ohne E-Gitarre?
Als Vater bin ich enttäuscht, wie wenig Medienkompetenz mein Sohn im Unterricht erlangt. „Digitale Demenz“ aber enttäuscht mich noch mehr. Es wird dafür sorgen, dass auch in Zukunft Eltern und Lehrer Medieneinsatz ablehnen. Was wir – endlich! – brauchen, ist, dass sich Befürworter und Gegner „digitalen Medien“ annähern, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Dabei gilt es, Mut zu haben, um Veränderungen zu wagen.
Manfred Spitzer: „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“. Droemer 2012, 19,99 Euro
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