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■ EditorialBrüche im Multikulti-Milieu

Die großen europäischen Städte sind heute ein Spiegel des politischen und ökonomischen Strukturwandels, der seit dem Ende achtziger Jahre tiefgreifende Veränderungen in den Industriegesellschaften bewirkt. Betroffen von dem Umbruch ist nicht nur der klassische Stadtbürger und sein Anspruch, als Akteur die gesellschaftlichen Prozesse mitzugestalten. Der demografische Wandel trifft insbesondere die Migranten, — jene Fremden in der Stadt —, und deren wirtschaftliche, soziale, räumliche und kulturelle Lebensperspektiven.

Orientierten sich bislang das Ideal der „multikulturellen Gesellschaft“ sowie die Praxis der Stadtpolitik und -planung an der Integration der Migranten, so stellt die veränderte Wirklichkeit dieses Modell in Frage. Der zunehmenden Arbeitslosigkeit, Verarmung und zugleich Fremdenfeindlichkeit auf der einen Seite und Ghettoisierung und ethnischer Segregation auf der anderen Seite scheinen die gängigen staatlichen und lokalen Handlungsansätze nicht mehr gewachsen. Ist damit das Leitbild der sozialen Mischung passé oder bedarf der Erneuerung? Welche Alternativen gibt es?

Weil die Mittel zur Lenkung sozialer Prozesse geringer geworden sind, können die Kommunen nicht länger auf die Initiativkraft und Selbstorganisation der ausländischen Büger verzichten.

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Die Tagung „Migration — Stadt im Wandel“ (vom 27. bis 30. November in Berlin, organisiert vom Wohnbund), will Beispiele dieser Initativen debattieren und den Austausch an Erfahrungen europäischer Städte fördern. In dem interdisziplinären Ansatz diskutieren Soziologen und Stadtplaner, Politiker und Initiativen, wie Migration und städtische Entwicklung sich gegenseitig beeinflussen und wodurch die Integration von Zuwanderern gefördert werden kann.

Das taz-dossier „Die Stadt und die Fremden“ greift dieser Debatte vor und widmet sich in seinen Beiträgen der Stadt im Zeichen der Migration. Da Berlin heute wieder zur Schnittstelle von Migration geworden ist, befassen sich drei Beiträge mit dieser Stadt. Die Zuwanderer stellen eine sozio-ökonomisch, politisch und kulturell wichtige Gruppe innerhalb der Berliner Bevölkerung dar. Von der Stadt werden neue Modelle der Integration erwartet. Die Stadtplanung sowie der Wohnungsbau spielen dabei eine wichtige Rolle.

Daß dies nicht mehr mit den praktizierten Mitteln der behutsamen Integration vonstatten gehen könnte, sondern möglicherweise ein Paradigmenwechsel hin zu ethnisch homogenen Quartieren bevorsteht, beschreibt Uwe Rada. Ebenfalls mit neuen Herausforderungen für die Berliner Stadtentwicklung — „mit Orten der Fremdheit“ — beschäftigt sich Hartmut Häußermann, indem er für positive Migrantenquartiere plädiert, die helfen könnten, soziale Polarisierungen abzufedern. In von Vera Gaserow ausgezeichneten Gesprächen zwischen zwei ausländischen Bürgern aus dem Berliner Stadtbezirk Neukölln treten noch einmal Differenzen exemplarisch zutage, wie der „ausländische Kiez“ gewünscht wird: multikulturell gemischt oder ethnisch segregiert.

Ein Plädoyer für die multikulturelle Stadt, aber auch die Entwicklung eigener „Communities“ hält Walter Siebel in seinem Debattenbeitrag. Fremde Kulturen und ihre Bürger stabilisieren die Städte und ihre urbanen Perspektiven, schreibt er. Dem gegenüber stellt Werner Orlowsky das Bild der funktionierenden durchmischten Gesellschaft, deren unterschiedliche Akteure sich an demokratischen Prozessen beteiligen und entsprechend handeln. Die Stärkung der städtischen Gesellschaft, die Abkehr von Segregationsprozessen, die bewußte Steigerung der sozialen Mischung in der Stadt bilden das notwendige Alternativprogramm zur gegenwärtigen Entwicklung. Ghettos, auch positiv gewendet, analysiert Orlowsky, bedeuten Desintegration nicht Integration. Rolf Lautenschläger

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