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Britische Flüchtlingsaktivisten vor GerichtEin abwegiger Terrorvorwurf

15 Briten verhinderten 2017 einen Abschiebeflug nach Afrika. Jetzt stehen sie in Chelmsford vor Gericht. Ihnen wird auch Terror vorgeworfen.

Sehen so „Terroristen“ aus? Einige der Angeklagten mit Freunden vor dem Gerichtsgebäude Foto: Daniel Zylbersztajn

CHELMSFORD taz | Gerichtssaal VI im ersten Stock des Staatsgerichts (Crown Court) in Chelmsford nordöstlich von London ist gerammelt voll. 15 Angeklagte, 13 Anwält*Innen in Roben und Perücke, 12 Geschworene, Gerichtspersonal, der Richter ebenfalls mit Perücke sowie schwarz-rot-lilafarbener Robe und blauer Brille, dazu Beobachter, Freunde und Angehörige der Angeklagten.

Der Fall der „Stansted Fifteen“, der seine erste Anhörung im März hatte, begann nach langer Pause erst vor drei Wochen in voller Wucht. Die 15 Aktivist*Innen, im Alter von 27 bis 44 Jahren, hatten am 28. März 2017 auf einer privaten Nebenbahn des Londoner Flughafens Stansted den Abflug einer vom britischen Innenministerium gecharterte Boeing 747 der Fluggesellschaft Titan durch eine gewaltfreie Blockade verhindert. Auf einem Banner erklärten die Aktivist*Innen, dass „Massendeportationen Menschen umbringen.“

Das Flugzeug sollte damals 53 Personen nach Westafrika abschieben, darunter nigerianische Flüchtlinge, deren Familien von Boko Haram umgebracht worden waren, sowie Angehörige der LGBTQ+-Community, die in ihren Heimatsaaten verfolgt werden. Weil sich die Aktivist*Innen in zwei Gruppen, am Vorderrad des Flugzeuges und an einem Baugerüst unter dem linken Flügel, durch in Rohre gezwungene Arme miteinander verbunden hatten, wurde der Flug gecancelt und der gesamte Luftverkehr Stansteds für fast eineinhalb Stunden gesperrt.

Nicht nur Landfriedensbruch wirft die Anklage den Aktivist*Innen vor, angeklagt sind sie auch unter dem Terrorparagraphen des Luftfahrts- und Schifffahrtssicherheitsgesetzes, das 1990 nach dem Lockerbie-Bombenattentat verabschiedet wurde.

Auf freiem Fuß

Doch die mutmaßlichen Terroristen scheinen nicht sehr gefährlich zu sein. Sie sind auf freiem Fuß, gehen im Gerichtsgebäude ein und aus und sitzen in der Mittagspause gemeinsam im Park vor der alten Kathedrale gegenüber vom Gericht.

Während ihrer Blockadeaktion hätten sie sich „unkommunikativ“ verhalten, bestätigt vor Gericht einer der Experten der Polizei, der zur Beschwichtigung der Situation zum Flughafen gerufen worden war. Sie antworteten nicht auf Fragen, sondern sangen. Aufgrund dieser passiven Verweigerung musste die Polizei sie mit Sägen und Schneidezangen einzeln entfernen.

Die Angeklagte Melanie Evans, 35, befragt selbst einen der Polizisten vor Gericht. „Ich kann mich daran erinnern mit Ihnen gesprochen zu haben“, sagt sie. Dann lässt sie sie sich von dem Beamten bestätigen, dass das Flugzeug tatsächlich auf einer abgelegenen Nebenbahn und nicht mitten auf dem Flugplatz stand, und dass sie ihm damals mitgeteilt hatte, dass die Aktion sich nicht gegen den Flughafen richtete, sondern einzig gegen diesen Abschiebefllug. Ein Punktsieg für die Verteidigung.

„Vorbildliche Menschen“

Der Prozess erregt Aufsehen. Sogar Amnesty International hat offizielle Beobachter geschickt. Unter den Zuschauern sitzt der 68-jährige Pfarrer Robert Wiggs, der mehrere der Angeklagten bei sich zu Hause beherbergt, vor allem unter der Woche, mit dem Segen des örtlichen Bischofs, wie er sagt. „Die Aktivisten sind vorbildliche, respektvolle und friedfertige Menschen, die ihre eigenen Körper für etwas einsetzten, was viele nachempfinden können“, glaubt Wiggs.

Es sei das britische Innenministerium und deren Behörden, die klare Richtlinien nicht vorschriftsmäßig einhalten wollten, angefeuert von einer fremdenfeindlichen Gossenpresse. „Bei einigen der Abzuschiebenden war das Verfahren noch gar nicht beendet. Eine der Personen an Bord der Maschine erhielt inzwischen das britische Aufenthaltsrecht“, sagt Wiggs.

Zwei Frauen aus der Gruppe leben bei der 58-jährigen Sabine Nussey, eine Deutsche, die seit 30 Jahren in England lebt. „Nein, das sind keine Terroristinnen, sondern einfach nur junge Menschen, die etwas gegen diese Deportationen machen wollten, statt zur schweigenden Menge zu gehören oder gar zu denen, die über Fremde ständig klagen“, sagt sie.

Nussey glaubt, dass die britische Regierung absichtlich Protest und Aktivismus mit Terrorismus vermischt: „Das erinnert mich alles etwas an die deutschen 1930er Jahre. Diese Deportationen, und dann die Sache mit den Abschiebungen der karibischen Einwanderer und jetzt Brexit. Als Deutsche frage ich mich, ob ich bei den Abschiebungen in meine eigene Zukunft blicken könnte.“

Der Prozess ist noch für weitere drei Wochen angesetzt. Noch in dieser Woche werden sich Beamte des Innenministeriums vor Gericht rechtfertigen müssen.

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