Brettspielmesse in Essen: Würfel, Schwerter, teure Pommes
Die Messe SPIEL in Essen ist die größte der Welt und ein Pflichttermin für die Szene. Man darf nur keine Angst vor Menschenmassen haben.
E s ist fast leer im Zug am frühen Morgen, wo doch der Rest der Welt noch schläft. Umso lauter dringen die Gespräche der Männergruppe vom Ende des Abteils herüber: „Natürlich kannste die Bonusaktion und eine Re-Aktion umwandeln“, sagt der eine gerade, „das Regelwerk 2024 lässt das zu.“ Die Schärfe im Ton ist irritierend, obwohl ich weiß, wovon die Fremden da reden. Der Angesprochene räuspert sich: „So ist das. Edition 5.5 kam nämlich nur, damit mein Characterbuild endlich funktioniert.“ Alle lachen.
Und während sich die Anspannung löst, beginne ich mich auf eine Fahrt einzustellen, die noch sehr, sehr lang werden wird. Und das nicht nur, weil die Spielemesse in Essen noch zweieinhalb Stunden entfernt ist – sondern auch, weil noch mehr Nerds zusteigen werden und es mit jedem Bahnhof ein bisschen lauter wird: das Gespräch über Fantasyrollenspiele, Star Wars, Warhammer und die Wahrscheinlichkeiten dieser oder jener Würfelergebnisse.
Die SPIEL ist die größte Spielemesse der Welt. Wirklich! Es gibt größere für Spielzeug und Videospiele – aber was das klassische Brettspiel angeht, ist Essen im Ruhrpott Spitzenreiter. 200.000 Menschen werden übers Wochenende auf der SPIEL erwartet, um sich 850 Stände auf 68.500 Quadratmetern anzuschauen.
Mitten im Gedränge
Es ist brechend voll, auch weil die Eröffnung diesmal auf den Tag der Deutschen Einheit fällt. Bereits am Essener Hauptbahnhof regeln Sicherheitskräfte das Auf und Ab zur U-Bahn Richtung Messehallen, was hier und da zu Irritationen der Normal-Essener führt, die plötzlich zwischen als Orks und Hexen Verkleideten und ihren sonderbaren Gesprächen feststecken.
Auf dem Gelände selbst kommt man erstaunlicherweise ganz gut zurecht, sofern man flexibel ist, was das Programm angeht. Verbissen auf bestimmte Signierstunden zu warten oder diese eine limitierte Messepromotionsspielkarte einsacken zu wollen mag frustig sein. Wer aber mit offenen Augen durch die Hallen wandert, findet immer mal einen gerade frei gewordenen Spieltisch, an dem junge Menschen in Verlagsshirts aufs Professionellste Spiele erklären. Viel besser als zu Hause: Man kann einfach wieder gehen, wenn das Spiel doch doof ist.
Ein Happy End vielleicht: Vor 25 oder 30 Jahren stand die SPIEL (damals noch: Internationale Spieltage) an der Schwelle zur Ramschmesse. Als das damals noch frische Internet ganzjährig über Neuerscheinungen informierte, ging es auf der Messe weniger um leuchtende Augen als um Kampfpreise. Und auch wenn das Ausprobieren seinen Wert hat, war es lustigerweise wieder das Internet, das der Sache frischen Wind einhauchte. Heute sieht man nämlich nicht selten Spiele, die es noch gar nicht gibt, weil Aussteller mit Prototypen ihre Crowdfundingkampagnen bewerben. Adressen werden hoch gehandelt: Für mein spannendstes Spiel habe ich nicht gezahlt, sondern lediglich mit gescanntem QR-Code einen Newsletter abonniert.
Neue Haut für alte Spiele
Ob die Branche abgesehen von ihren Vertriebskanälen noch echte Innovationen abwirft? Ich weiß es nicht. Viele Leute in den Testrunden scheinen schon recht genau zu wissen, was sie erwartet. Und auch die freundlichen Promoter:innen setzen aufs Vertraute.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Mein erstes Spiel wird etwa so erklärt: „Es funktioniert wie Boccia, nur mit Pfeilen.“ Bei einem Star-Wars-Kartenspiel geht es statt der eigentlichen Regeln eher um die (wenigen) Unterschiede zum Genrebegründer Magic: The Gathering von 1993. Das dritte ist Schach mit einem lustigen Dreh an den Regeln, und über ein viertes ist zu hören, es gebe das gleiche schon mit Raumschiffen statt Tiefseemonstern. Reskinning nennt das der Entwickler selbstbewusst: dem gleichen Spiel eine neue Haut verpassen.
Die Kundschaft scheint damit kein Problem zu haben. Im Gegenteil: Wieder im Zug, wird den Mitreisenden die siebte Erweiterung von Spiel Soundso präsentieren, das Reboot von irgendwas gefeiert oder ein günstig geschossenes Sammlerstück aus den 1980er Jahren gezeigt. Nur müde ist man von dem Tag. Und etwas leiser als auf dem Hinweg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste