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Bremer Eins-zu-Eins-Performance FestivalDer saubere Herr Ich und die Kunst

Maximal minimalistisch: Mit dem Festival „For Your Eyes Only“ erprobt die Bremer Schwankhalle neue Spielorte. Und lässt den Zuschauer mit sich allein.

Ist das Kunst oder fliegt das weg? Kaum sichtbare Ballone regen die Vorstellungskraft an Foto: bes/taz

Bremen taz | Na, viel ist das nicht gerade für eine Performance. Drei Luftballons, farblos, transparent, stehen im Wind über der alten Galopprennbahn in Bremen-Vahr wie superstabile Seifenblasen. Tanzen. Tanzen sie?

Der Kopfhörer, über den sich der Donauwalzer einschwingt, der Feldstecher, der bereit liegt und vor allem der Platz auf der großen Tribüne, der dem Publikum bei dieser Vorabendvorstellung zugewiesen ist, zwingen dazu, das zu erwarten, zu erahnen, zu fantasieren: Der Platz ist ein feudaler Sessel, mitten in der Mitte des Mittelgangs.

Und das Publikum besteht aus einer Person, die jetzt nicht mehr vermeiden kann, Ich zu schreiben: „Le Moi est haïssable“, das ist so ein Gedanke von Blaise Pascal, das Ich ist hassenswert. Und zwar sei es das, schreibt er, aus zwei Gründen, nämlich, „weil es sich zum Mittelpunkt von allem macht und weil es die anderen unterjocht“.

Genau das passiert hier bei der Eins-zu-Eins-Performance „Present Traces“ im Rahmen des „For Your Eyes Only“-Festivals der Bremer Schwankhalle: Die anderen, also hier das eine Künst­le­r*in­nen­team – im konkreten Fall Janis E. Müller, Julie Savchenko und Andy Zondag –, haben sich den Erwartungen ihres Publikums unterworfen, also des einen Zuschauers, der Ich bin.

Die Feigheit des Kritikers

Der bewertet alles, was sie da anstellen, er misst es an der Skala seiner Erwartungen: Na, viel ist das ja nun wirklich nicht! Er wird überrascht: Das ist ja ein toller Zufall, wie sie den Gesang der Krähen auf die Kopfhörer beamen, gerade, als sich ein Schwarm aus dem versteppten Rasen erhebt, oder wäre das jetzt …? Und er beurteilt sie notwendigerweise ungerecht, wie Pascal sagt, der alte Pessimist.

Aber dieser saubere Herr Ich kann ja auch gar nicht anders. Er ist auf sich selbst zurückgeworfen, schließlich ist ja niemand da, dessen Applaus er beipflichten könnte, niemand, hinter dessen Urteil er sich ducken könnte. Dabei würde er so gern: Sind Kritiker nicht, wie alle Voyeure, von Natur aus feige, verlogen und gemein? Und jetzt soll er sich plötzlich ehrlich bekennen? Am Ende gar Ich sagen?

Unangenehm? Oder vielleicht doch eine interessante Erfahrung, die dieses kleine Festival eröffnet? Wobei: klein ist Quatsch. Die ersten vier Spieltage sind vorbei, acht stehen noch aus: Insgesamt gibt’s 15 Acts, Programmzeiten sind donnerstags von 18 bis 21, freitags bis 22 Uhr, samstags und sonntags ab dem frühen Nachmittag.

Weil aber im Prinzip alle acht Spielorte auf dem Rennbahngelände simultan genutzt werden könnten, ergibt sich, abzüglich der 15-minütigen Pausen zwischen den Slots, eine theoretische Gesamtspieldauer von 228 Stunden. Das sind Bayreuther Dimensionen, nur halt ohne Millionensubventionen für Großorchester und Judenhass.

Das Festival

For Your Eyes Only, Do, 18–21 Uhr; Fr, 18–22 Uhr; Sa, 14–22 Uhr und So, 14–18 Uhr, vom 13.–16. 10. und 20.–23. 10., Galopprennbahn Bremen, Ludwig-Roselius-Allee. Für den Besuch ist je ein individueller Zeitslot à 3 Performances zu buchen, die per Losverfahren zugeordnet werden. Reservierung: ☎ 0421-520 80 70 oder ticket@schwankhalle.de, weitere Infos unter schwankhalle.de

Beteiligte Künst­le­r*in­nen sind Sophia Bizer, Riccardo Castagnola, Simone Ehlen, Jakob Engel und Jan Philipp Stange, Birgit Freitag & Neus Ledesma Vidal, Katharina Greeven, Jan van Hasselt, Hysterisches Globusgefühl, Rebecca Junghans, Alexandra Llorens, Reza Nouri Arfae, Daniel Riedel, Karl rummel, Magali Sander Fett, Emilia Sting, Andy Zondag & Janis E. Müller & Julie Savchenko.

Die minimalistische Kunstform der Eins-zu-Eins-Performance, also einer Produktion, die genau jeweils eine Person konsumieren kann, scheint ein fast unverschämter Luxus, gerade jetzt, während alles zu Sparsamkeit mahnt und landauf, landab Theater postpandemischen Besucherschwund beklagen.

Zugleich aber vermag dieses Format, weil es so direkt und unausweichlich anspricht, so radikal konzentriert ist auf die Begegnung von Kunstaktion und Rezipient, sehr nachhaltige Erlebnisse produzieren. Momente, die sich im Kopf einnisten und dazu bringen, die Grenze zu suchen, wo Kunst und Quatsch sich voneinander trennen. Wenn es die gibt.

Mit dem Festival auf der Galopprennbahn, auf der anderen Weserseite gelegen und gut acht Kilometer Luftlinie vom Stammhaus entfernt, setzt die neue Leitung der Schwankhalle die angekündigte Politik der Öffnung in die Stadt und der Einbeziehung ihrer Szene fort. Die Resonanz der ersten Festivaltage kann man indes bestenfalls als durchwachsen bezeichnen.

Nicht alles ist toll

Und es ist auch nicht alles toll: Manche Produktionen sind von einem angestrengten Kunstwollen getragen, auf das Ich nicht immer Lust hat, trotz schöner tänzerischer Energie. Aber geradezu euphorisch stimmt die Bandbreite der 15 Original-Produktionen, die sämtlich von mehr oder minder bekannten in Bremen ansässigen Künst­le­r*in­nen fürs Festival kreiert wurden, plus den Oktobermond als Stargast, der über dem Freigelände aufgeht: Ironische Zauberschau und Kräuterteezeremonie, Verliebensworkshop und Tanzschritt­erkundung, so vieles geht hier, wo wir doch so pleite sind!

Andere versuchen den Besucher in eine heillose Interaktion zu verwickeln: Wer sich mit all seinen Neurosen auf Riccardo Castagnolas Elektronik-Spieltisch einlässt, riskiert, sich in einen febrilen Duell­modus zu steigern.

Bei dem wird er, wild und planlos, bereitgestellten Klimbim auf die leuchtenden Felder deponieren, Zahnstocher, Spielzeugmöhren, Buchstabenwürfel – als wäre es möglich, damit irgendetwas zu beeinflussen. Als hätte das Gegenüber nicht die Macht, alles zu entscheiden. Als wäre nicht er der Urheber, der über Anfang und Ende bestimmt, der Autor, der Ich sagen kann. Der sich den Mittelpunkt erobert. Und alle anderen unterjocht.

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