Bremer Autorin über Brüche im Lebenslauf: Ein bisschen Maske bleibt immer
Jutta Reichelt beschreibt in ihrem Roman, „Wiederholte Verdächtigungen“ wie Lebens- und Identitätskonstrukte auseinandergleiten.
BREMEN taz | „Ich hatte den diffusen Eindruck, dass mit meinem Leben etwas nicht stimmt.“ Mitte 20 war die Bremer Autorin Jutta Reichelt damals, und das Gefühl ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht konkreter fassen. Diese emotionale Situation ähnelt der von Christoph, der Hauptfigur in ihrem gerade erschienenen Roman „Wiederholte Verdächtigungen“.
Mit einer knappen SMS kündigt Christoph darin seiner Freundin Katharina an, dass er einige Zeit für sich brauche, sich „idiotisch in eine Sache verrannt“ habe – und bleibt erst mal verschwunden.
Als er nach vier Tagen wieder auftaucht, ist nichts klarer. Christoph ist aus der Spur, er macht nur vage Andeutungen. Und am liebsten würde er so tun, als sei alles in Ordnung. Aber etwas bislang Unbekanntes, Ungewusstes bringt sein bislang vertrautes Leben ins Wanken. Lange kann er nicht erkennen, was der Grund seiner Verstörung ist.
Der Entschluss, zu schreiben und in der Folge „die Literatur in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen“, sagt Jutta Reichelt, erfolgte eben zu der Zeit, als dieses Gefühl in ihr auftauchte, etwas stimme nicht. Das Schreiben schien eine Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen. Die heute 47-Jährige unterbrach dafür ihr Soziologiestudium in Bremen.
„Ich dachte überhaupt nicht, dass ich das ganz toll kann.“ Im Gegenteil, es sei sehr schwierig gewesen und habe lange gedauert, bis sie ihre Sprache und ihre Themen gefunden habe. Andererseits „hatte ich bei nichts anderem, was ich bis dahin gemacht hatte, so sehr das Gefühl, dass es für mich stimmt“, sagt Reichelt. Diverse Jobs sicherten damals die finanzielle Existenz und sind auch heute unverzichtbar.
2001 trug ihre „irrwitzige Entscheidung“ für die Literatur Früchte: Für den Würth-Literatur-Preis reichte sie, der Themenvorgabe entsprechend, eine Kurzgeschichte über eine Handtasche ein und gewann bei 1.000 MitbewerberInnen den ersten Platz, Herta Müller hielt die Laudatio. „Das war dann doch ein gutes Omen“, erzählt sie mit einem kleinen Lachen.
Heute bringt Jutta Reichelt in Literaturwerkstätten anderen das Schreiben bei und betreibt einen Literaturblog, der „Über das Schreiben von Geschichten“ heißt. Alle sechs bis zehn Tage tauscht sie sich mit den LeserInnen über ihre Arbeit und ihren literarischen Alltag aus, die Einträge zusammen genommen ergeben viele kleine Anleitungen zum Schreiben.
Jutta Reichelt arbeitet intensiv und lange an ihren Büchern, sechs Jahre waren es beim neuen Roman. Das bedeutet viel Zeit allein am Schreibtisch, aber eine Elfenbeinturm-Autorin ist sie nicht, im Gegenteil: Sie sucht den Austausch und empfindet das regelmäßige und schnelle Verfassen der kurzen Blogbeiträge nicht als Belastung. Es scheint ihr vielmehr Spaß zu machen, der sonst so intensiven, langsamen Textarbeit so ein kleines Schnippchen zu schlagen.
Privat lebt Jutta Reichelt zusammen mit ihrer Frau in einem kleinen Haus in Bremens Neustadt. Nach über 20 Jahren Beziehung haben die beiden vor einem Jahr dann geheiratet. Trotzdem habe sie es nahe liegender gefunden, im Roman ein heterosexuelles Paar zu wählen, denn „bei einer Frauenbeziehung fragen sich die Leute: Was an dem, was passiert, hat seine Ursache darin, dass die beiden Frauen sind. Es hat damit für mich aber nichts zu tun gehabt“, sagt sie.
Geschlechterfragen findet sie zwar sehr wichtig, aber Reichelt hat das Gefühl, dass „ich für mich als Person noch andere, größere Felder beackern muss“. Ihre bisherigen Texte drehen sich daher um andere existenzielle Themen.
Auf ihrem Blog geht es oft genau darum: um das Finden des eigenen Stoffes, denn der ist Dreh und Angelpunkt einer guten Geschichte. Einer ihrer Leitsätze ist der des Schriftstellers Eugen Ruge: „Ich habe diese Geschichte erfunden, um zu erzählen, wie es war.“ Er beschreibe „ganz genau mein Schreibprojekt“. Autobiografisch seien ihre Texte aber nur insofern, als sie Fragen umkreisten, die für sie gravierend seien. Auf der Handlungsebene hätten sie mit ihrer Person nichts zu tun.
Jutta Reichelt spricht mit Hingabe und sehr lebendig über ihr Schreiben. Über dieses Moment des Autobiografischen, über die enge Verbindung zwischen einer Geschichte und ihrer VerfasserIn. Was sie aber im Gespräch über sich preisgibt, überlegt sie sehr genau. Sie möchte die Kontrolle nicht aus der Hand geben.
Doch nicht nur im aktuellen Roman, sondern schon im Erzählband „Zufälle“ und im Romandebüt „Nebenfolgen“ ging es genau ums Gegenteil: um den Moment, in dem das Leben aus dem Takt gerät und nicht mehr kontrollierbar ist.
Woher kommt die Affinität zu diesem Motiv? Jutta Reichelt zögert. „Eines der Grundgefühle meines Lebens ist, dass wir immer eine Handbreit von irgendwelchen Katastrophen entfernt sind, von Bedrohungen, Erschütterungen.“
Sie blickt beim Sprechen immer wieder zum Fenster, es ist kein Wegschauen, sondern hilft beim Nachdenken. „Wir sind existentiell darauf angewiesen, uns Lebensgeschichten unserer selbst erzählen zu können. Und wenn da Verknüpfungen nicht stimmen oder sich als brüchig erweisen, kommen wir in die Bredouille.“
Und ja, sagt sie schließlich, sie habe selbst so eine existenzielle Erschütterung erfahren. Sie formuliert vorsichtig. „Ich kann keine Details nennen, aber dass sich mir meine Lebensgeschichte ganz anders dargestellt hat, als ich es lange dachte, das kann ich schon sagen. Und dass es mit meiner Kindheit zu tun hat.“ Ihr Gefühl von damals, etwas in ihrem Leben stimme nicht – es hat nicht getrogen.
Einerseits eigene Empfindungen in die künstlerische Arbeit hineinzugeben, andererseits nur behutsam Persönliches preiszugeben, sich verborgen zu halten – das ist eine Mischung, die man auch auf das Maskentheater beziehen könnte. Seit vielen Jahren spielt Jutta Reichelt mit großer Begeisterung in der Maskengruppe des integrativen Bremer Blaumeier Ateliers. Die AkteurInnen bleiben dort hinter Masken verborgen. Doch ihre Emotionen verleihen den Figuren eine große Lebendigkeit.
Jutta Reichelt präsentiert ihr Buch „Wiederholte Verdächtigungen“ am 26. Februar um 19 Uhr in der Stadtbücherei Bremen
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