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BrasilienJuristischer Erfolg für Indigene

Brasiliens Oberstes Bundesgericht erklärt die Stichtagsregelung zur Vermessung von Gebieten erneut für verfassungswidrig. Vielleicht ist das nicht das letzte Urteil.

Indigene Bra­si­lia­ne­r*in­nen in Belem bei der COP30 Foto: Fernando Llano/ap
Christine Wollowski

Aus Salvador Da Bahia

Christine Wollowski

Schlappe für die brasilianische Agrarlobby: In der Nacht zu Freitag hat das Oberste Bundesgericht (STF) sich ein zweites Mal für die indigene Bevölkerung und gegen die Stichtagsregelung bei der Vermessung ihrer Gebiete (Marco temporal) entschieden. Mit neun Stimmen und nur einer Gegenstimme erklärten die Richter das Marco temporal für verfassungswidrig.

Das Armdrücken zwischen dem von der Agrarlobby dominierten Kongress und dem Obersten Bundesgericht dauert bereits seit Jahren an. Das STF hatte die Stichtagsregelung erstmals im Jahr 2023 als verfassungswidrig abgelehnt.

Damals hatte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gegen weite Teile der entsprechenden Gesetzesvorlage ein Veto eingelegt. Doch der Kongress kippte das Veto, wodurch das Gesetz trotzdem in Kraft trat. Als nun in der vergangenen Woche der Senat eine Verfassungsänderung abnickte, in der die Stichtagsregelung enthalten ist, landete die Frage erneut vor dem Bundesgericht.

Nach der Marco-temporal-Regelung dürfen indigene Gemeinschaften nur Land beanspruchen, wenn sie beweisen können, dass sie bereits vor Inkrafttreten der brasilianischen Verfassung im Oktober 1988 dort gelebt haben. Der Grundsatz wurde erstmals 2009 angewendet. Seitdem wollen die Großgrundbesitzer überall davon profitieren.

Keine Beweisdokumente

Mehr als ein Drittel aller Indigenen-Gebiete wären davon betroffen. Der ultrarechte damalige Präsident Jair Bolsonaro wollte so vor allem die wirtschaftliche Ausbeutung im Amazonas-Regenwald vorantreiben. Vertreter der indigenen Gemeinschaften argumentieren hingegen, dass viele ihrer Vorfahren während der Militärdiktatur (1964–1985) von ihrem Land vertrieben wurden. Auch gibt es Fälle, dass Betroffene keine Beweisdokumente vorweisen können.

Die aktuelle Entscheidung kippt die Zeitmarke nun zum zweiten Mal. Außerdem entschied der berichterstattende Richter Gilmar Mendes, dass 158 laufende Verfahren zur Festschreibung von Schutzgebieten binnen zehn Jahren abgeschlossen werden müssen.

Wirtschaftliche Aktivitäten in indigenen Gebieten, wie Tourismus, bleiben auch dann verfassungskonform, wenn nichtindigene Personen daran beteiligt sind. Kritiker sehen hier eine Schwächung indigener Rechte durch das Eindringen nichtindigener Unternehmen. Auch die Entscheidung, dass illegale Besetzer die Schutzgebiete erst nach Entschädigung räumen müssen, sorgt für Kritik.

Fortschritte bei der CPO30

Ansonsten geht es für indigene Gruppen zurzeit voran: Seit der Klimakonferenz COP30 im November gab es Fortschritte bei der Vermessung von 38 Gebieten mit einer Gesamtgröße von nahezu 7 Millionen Hektar. Das sorgt für Unmut bei der Agrarlobby, die sich durch das aktuelle Urteil nicht geschlagen sieht.

Die im Senat angenommene Verfassungsänderung geht als Nächstes in die Abgeordnetenkammer. Falls sie dort bestätigt wird, tritt sie in Kraft, ohne dass Präsident Lula zustimmen müsste. In diesem Fall muss der Oberste Gerichtshof womöglich bald ein drittes Mal über die Stichtagsregelung beraten.

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