■ Bonn kritisiert die Politik Netanjahus offen wie nie zuvor: Ein Affront zur rechten Zeit
Das ist kein einfacher Schuß vor den Bug. Das ist ein bisher einmaliger politischer und diplomatischer Affront. Einen Tag vor dem heutigen ersten Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Bonn hat Staatsminister Helmut Schäfer die finanzielle und politische Hilfe für Israel in Frage gestellt. Ein Ministerpräsident, der so offensichtlich die Friedensbemühungen im Nahen Osten, für die die Bundesrepublik viel Geld ausgebe, konterkariere wie Netanjahu, könne in Bonn nicht auf Wohlwollen rechnen, sagte Schäfer. Der Minister hat recht.
Es ist ja nicht nur der Tunnelbau in Jerusalem, der für böses Blut zwischen Palästinensern und Israelis sorgt und Arafat veranlaßte, einen Generalstreik auszurufen. Es ist vor allem die Intensivierung des israelischen Siedlungsbaus, die den Friedensvereinbarungen Hohn spricht. Just vor seiner Europareise hat Netanjahu nochmals 780 Wohneinheiten in der Westbank genehmigt. Und „Bulldozer“ Sharon durfte gestern verkünden, daß auch auf dem Golan 600 zusätzliche Wohneinheiten entstehen werden.
100 Tage ist die Regierung Netanjahu im Amt. Außer einem Händedruck mit Arafat, der erst auf Intervention der US-Regierung zustandekam, hat diese Regierung nichts Friedfertiges vorzuweisen. Im Gegenteil: An der syrisch-israelischen Grenze wächst die Konfrontation, im Südlibanon kommt es täglich zu neuen Gefechten, die Landenteignung in der Westbank geht weiter. Und zum vertraglich festgelegten Abzug aus Hebron kann Netanjahu sich nicht entschließen, weil seine Kabinettskollegen die Altstadt von Hebron am liebsten gleich in die nahegelegene jüdische Siedlung Kiryat Arba eingemeinden wollen. Die Verbündeten schütteln den Kopf, die arabische Welt ist entsetzt.
Netanjahu macht Politik nach dem überholten Likud-Raster der israelischen Pionierzeit. Erobern und absichern, lautete deren Motto. Diese Strategie beschwört neue Konfrontationen, ja vielleicht neue Kriege herauf. Der Affront aus dem Auswärtigen Amt wird Netanjahu vermutlich nicht zu einer Kurskorrektur bewegen. Aber er macht auf erfrischende Weise klar, auf welchem Irrweg sich Israels Regierung seit 100 Tagen befindet. Georg Baltissen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen