Bombenanschlag im Norden Syriens: Viele Tote in der Rebellenhochburg
In Idlib werden mindestens 24 Menschen getötet. Die Tat könnte mit einer bevorstehenden russisch-türkischen Offensive in Zusammenhang stehen.
Der Anschlag erfolgte nach einem besonders perfiden Muster. Nach Angaben eines Beobachters vor Ort explodierte zunächst mitten im Stadtzentrum eine Autobombe. Als dann Rettungskräfte anrückten, wurde eine zweite Bombe gezündet. Ein Informant, mit dem die Deutsche Presseagentur telefonisch in Kontakt ist, wollte aus Angst nicht namentlich genannt werden.
In Idlib, sowohl in der Stadt als auch in der gleichnamigen Provinz im Nordwesten Syriens, ist Gewalt an der Tagesordnung. Abgesehen von den Kurdengebieten im Osten des Landes, ist Idlib die letzte Provinz, die noch von Aufständischen gegen das Assad-Regime kontrolliert wird.
Von der demokratischen Opposition gegen Assad ist in Idlib allerdings nicht mehr viel übrig. Nach heftigen Kämpfen in den vergangenen zwei Monaten hat die islamistische Miliz Hai'at Tahrir al-Scham (HTS), ein Ableger von al-Qaida, sowohl in der Stadt Idlib als auch im größten Teil der Provinz weitgehend die Kontrolle übernommen.
Längst entwaffnet
Dabei hätte HTS, die sich früher Nusra-Front nannte und neben dem IS die radikalste islamistische Miliz in Syrien ist, längst entwaffnet sein sollen. Im Herbst 2018 hatte das Assad-Regime nach seinen militärischen Erfolgen gegen die Rebellenhochburgen im Süden des Landes begonnen, einen Großangriff auch auf das letzte Rückzugsgebiet der Rebellen in Idlib vorzubereiten.
Zuvor waren viele Kämpfer, aber auch deren Familien, aus vom Regime zurückeroberten Gebieten nach Idlib geflohen oder hatten auch freies Geleit in Richtung Idlib erhalten. Von Idlib aus gibt es aber für Aufständische kein Gebiet in Syrien mehr, in das sie noch gehen können. Der letzte Fluchtweg wäre die nahe türkische Grenze gewesen.
Vor allem die türkische Regierung befürchtete daher, dass bei einem Großangriff auf Idlib erneut Hunderttausende syrische Flüchtlinge über die Grenze drängen würden. Das ist ein Horrorszenario für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, hat doch die Türkei bereits die größten Probleme, die schon im Land befindlichen 3,5 Millionen Syrer unterzubringen und zu versorgen.
Erdoğan verhandelte deshalb mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, ohne dessen Unterstützung Assad nicht angreifen kann, einen Waffenstillstand für Idlib, der im vergangenen September unterzeichnet wurde. Darin verpflichtete sich die Türkei, eine Pufferzone entlang der Provinzgrenze von allen kämpfenden Gruppen freizuhalten und darüber hinaus den Milizen ihre schweren Waffen abzunehmen.
Schwere Niederlage
Eine Rebellenkoalition, die seit Längerem von der Türkei unterstützt wird, willigte ein, sich an die Konditionen des Waffenstillstands zu halten. HTS erklärte sofort, sie würde ihre Waffen behalten und sich auch aus der Pufferzone nicht zurückziehen. Als die mit der Türkei verbündeten Rebellen daraufhin gewaltsam gegen HTS vorgingen, um diese zu entwaffnen, erlitt die von Ankara unterstützte Koalition eine schwere Niederlage.
Seitdem drängt Putin gegenüber Erdoğan darauf, notfalls die türkische Armee einzusetzen, um HTS zumindest aus der Pufferzone zurückzudrängen und so weitere Angriffe von HTS auf syrische Truppen und einen nahe gelegenen russischen Militärflugplatz zu verhindern.
In der vergangenen Woche fand deshalb ein Treffen der beiden Präsidenten im russischen Sotschi statt, an dem auch der iranische Präsident Hassan Rohani teilnahm. Erdoğan berichtete gegenüber türkischen Journalisten anschließend, es sei über eine gemeinsame türkisch-russische Operation in Idlib gesprochen worden.
Militärs beider Seiten würden nun darüber beraten, wie eine solche Operation gegen HTS aussehen könne, ohne die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zu ziehen. Ob der Bombenanschlag von Montag mit den Vorbereitungen einer solchen Operation zu tun hat, ist unklar. Niemand hat sich bislang zu dem Attentat bekannt und es gibt keine Spur, die zu den Attentätern führt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren