Querspalte:
Blues-Chip
Heute fange ich an, reich zu werden. Es wird ein gutes Jahr für mich und Deutschland, denn ich beginne mein Anlegerleben. An der Börse locken schöne Gewinne, die ich nicht mehr achtlos liegen lassen kann. Schließlich trage ich zu viel Verantwortung.
Die passiven Jahre sind vorbei. Zu lange schaute ich zu, wie Freund und Feind einen Aktiendeal nach dem andern durchziehen. Keiner von ihnen kümmert sich um Kurs, Gewinnverhältnis, Abschlagszahlung und heiß laufende Papiere. Sie verdienen einfach schnelles Geld. Ich hingegen murmle mein Kostolany-Mantra: Die Kurse steigen, wenn es mehr Dumme als Aktien gibt. Wie dumm. Wie stupide. Gesellschaftlich unmöglich!
Darf ich mich vorstellen: Zweiter Bildungsweg, zwei Studien, viel BAföG. Habe immer geglaubt, dass die Akkumulation des Kapitals schlecht ist. Seit 144 Monaten wartet das BAföG-Amt auf mein Geld: Einundzwanzigtausend und einige Mark. Bislang lasse ich sie schick hängen. Setze jeden Kugelschreiber beim Finanzamt ab, nur um das Einkommen unter den Sozialhilfesatz zu drücken. So entwinde ich mich der lästigen Pflicht. Meine Zahlungsmoral diktiert ein altes SPD-Bildungsideal: Arbeiterkinder an die Universitäten – Bildung statt Panzer.
Zugegeben, mulmig war mir schon. Seit gestern bin ich ruhiger: Es gibt wieder bevorzugte Volksaktien. Heute pumpe ich meinen dividendengestärkten Freund an und kaufe für dreitausend Mark Infineons. Die Analysten prognostizieren der Aktie eine Steilfahrt sondergleichen. In einem Jahr könnte sich der Kurs versiebenfachen. Wenn alles gut läuft, kapitalisiere ich meine Gewinne im nächsten Februar. BAföG-Geschäftszeichen 4711 111 verlässt die gemütliche Schuldenfalle und überweist. Politisch korrekt. Meine Investition in die Deutschland AG. Anna Kremer
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