Blogger Evgeny Morozov über Demokratie: "Das Internet wird überschätzt"
Die Proteste im Iran galten als "Twitter-Revolution". Der Wissenschaftler Evgeny Morozov über den Unterschied zu Tunesien und die Bedeutung von sozialen Medien für politische Umstürze.
taz: Herr Morozov, hätten die Proteste in Tunesien solche Ausmaße angenommen, wenn Twitter, Facebook und andere soziale Netzwerke nicht zur Verfügung gestanden hätten?
Evgeny Morozov: Die Proteste hätte es trotzdem gegeben. Ob sie so massiv ausgefallen wären, wie sie nun gewesen sind, ist schwer zu sagen. Soziale Medien haben eine wichtige Rolle gespielt, besonders dabei, die Proteste außerhalb der Landesgrenzen publik zu machen. Facebook-Quellen wurden von den TV-Sendern al-Dschasira und France24 genutzt.
Aber Sie warnen doch immer davor, die positiven Effekte sozialer Netzwerke in autoritären Gesellschaften zu überschätzen.
Wenn man sich die Reaktionen auf die Ereignisse in Tunesien anschaut, haben viele das Potenzial der sozialen Medien überzeichnet. Das gilt besonders für US-Medien. Man hat das, was dort passiert ist, Wikileaks-Revolution genannt, Twitter-Revolution oder Facebook-Revolution. All diese Bezeichnungen überschätzen den Einfluss des Internets erheblich. Es gibt vieles, was man von den Vorfällen in Tunesien lernen kann, etwa, wie dort mobilisiert wurde. Aber auch, dass wir uns im Westen als Standardreaktion bei solchen Ereignissen immer auf das Internet als Erklärung stürzen, statt politische oder soziale Erklärungen zu suchen.
Wie hat das tunesische Regime das Netz überwacht und zensiert?
Definitiv haben sie Hackerattacken gestartet und haben sich Zugang zu den E-Mail-Accounts von Protestierenden und Bloggern verschafft. Sie haben den Zugang zu bestimmten Webseiten blockiert und haben damit erst wenige Tage vor Ben Alis Rücktritt aufgehört. Diese Regierung ist einer der raffiniertesten Zensoren des Internets überhaupt – direkt nach Iran und China vielleicht.
Mit welchen Konsequenzen für die Protestierenden?
Dass die Regierung ihre Zensursysteme so lange aufrechterhalten konnte, zeigt mir eines: Wenn Ben Ali noch an der Macht wäre, würden wir jetzt wahrscheinlich sehen, wie die tunesische Geheimpolizei Akten durchgeht und zu identifizieren versucht, wer an den Protesten teilgenommen hat, indem sie die Handy-Positionsdaten und die Social-Media-Profile von Kritikern auswertet und Ähnliches. Bei jeder Revolution gilt: Wenn sie scheitert, kann die Razzia hinterher gravierende Folgen haben. Und die Tatsache, dass soziale Medien genutzt wurden, hätte die Razzien noch sehr viel gravierender gemacht, als sie sonst ausgefallen wären.
ist Wissenschaftler, Blogger und Autor beim Magazin Foreign Affairs. Derzeit absolviert er einen Forschungsaufenthalt an der Stanford-Universität. Gerade ist sein Buch "The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom" auf Englisch erschienen. Morozov ist gebürtiger Weißrusse und beriet jahrelang das Open Society Institute von George Soros in der Frage, wie mithilfe des Internets Demokratisierungsprozesse in autoritären Regimen gefördert werden können.
Die Aufmerksamkeit für die Proteste in Tunesien kam ja relativ spät. Hat sich der Neuigkeitswert von twitternden Protestierenden nach der iranischen Revolution abgenutzt?
Teils stimmt das natürlich. 2009 hatte das mit den sozialen Medien definitiv einen Neuigkeitswert, der sich jetzt ein wenig abgenutzt hat. Aber man muss das natürlich auch aus einer zynischeren, realpolitischen Perspektive sehen. Tunesien spielt einfach eine sehr viel weniger wichtige Rolle, unglücklicherweise. Es hat keine Nuklearwaffen, strebt keine an, hat kaum Öl.
Auf der anderen Seite haben wir auch schon vor der Revolution im Iran Proteste gesehen, die sich massiv sozialer Medien bedient haben und es schon nach einem Tag auf die Titelseiten der New York Times geschafft haben, während das in Tunesien fast vier Wochen gedauert hat.
Wissen Sie, man muss sich die konkreten Nachrichtenereignisse angucken. Bei den Aufständen im Iran oder auch in Moldawien standen in beiden Fällen Wahlen an - damit war mediales Interesse garantiert. Denn wir wissen, dass auf Wahlen ziemlich häufig Proteste folgen. In Tunesien gab es keine Wahlen.
Sie kritisieren, dass westliche Regierungen zu viel Hoffnung in die umstürzlerische Kraft von sozialen Medien setzen. Was genau meinen Sie damit?
Mir geht es vor allem darum, wie der Westen sich für die Förderung von Demokratisierungsprozessen in diesen Ländern einsetzt. Meine große Frage ist: Wie schafft man eine Politik, die mehr Gutes tut als Schaden anrichtet? Ich glaube einfach, dass das intellektuelle Paradigma, Demokratie via Internet zu fördern, veraltet ist.
Warum?
Weil es falsche Annahmen über das Internet trifft. Eine davon ist, dass Diktatoren nicht in der Lage sind, das Internet zu kontrollieren. Eine weitere, dass soziale Medien uneingeschränkt positiv für Dissidenten sind. Dass Leute in autoritären Staaten das Internet nutzen, um sich über Politik zu informieren, und nicht, um sich einfach unterhalten zu lassen. Es gibt noch viele andere.
Ich versuche in meinem neuen Buch, ein paar Kriterien zu skizzieren, die wir nutzen sollten, um ein neues Paradigma aufzustellen. Wir müssen den Fokus von der technologischen Perspektive wegnehmen und uns darauf konzentrieren, nicht unsere eigenen Verantwortlichkeiten aus den Augen zu verlieren.
Welche sind das?
Zum Beispiel müssen Unternehmen, die Überwachungs- und Zensurtechnologien an diese Länder vertreiben, kontrolliert werden. Und wir müssen uns ansehen, wie unsere eigene Außenpolitik uns behindert, Internetfreiheit zu fördern – wie es in den USA häufig der Fall ist. Wir sollten aufhören zu denken, dass es eine innere Logik gibt, laut der das Internet autoritäre Systeme zerstören wird und uns lieber die Einflüsse der lokalen Umstände in diesen Ländern ansehen.
Was heißt das für Dissidenten in autoritären Regimen? "Hört auf, das Netz zu nutzen, das ist für euch gefährlich!"?
Nein, darum geht es mir nicht. Die Bedeutung des Internets nicht anzuerkennen, das ergibt für mich keinen Sinn. Aber noch mal: Wir müssen realistisch sein und darauf achten, dass wir keinen Schaden anrichten. Das sollte das wichtigste Prinzip sein, wenn wir die Freiheit des Internets fördern wollen.
Welchen Schaden meinen Sie?
Wenn Leute im US State Department und US-Medien dem, was im Iran passiert, das Etikett "Twitter-Revolution" verpassen, dann ist doch offensichtlich, dass das Unternehmen Twitter, die Nutzer und das Internet generell die Opfer dieses Etiketts werden. Genau das gilt auch für Tunesien: Die arabischen Diktatoren schauen sich das ganz genau an. Und je mehr wir über eine Wikileaks- oder Twitter-Revolution sprechen, desto mehr werden sie sich genötigt fühlen, das Internet noch weiter einzuschränken.
Die US-Regierung hat scharf auf die Cablegate-Veröffentlichungen von Wikileaks reagiert. Hat sie sich damit die Chance verbaut, künftig China oder andere Länder für ihre Netzzensur zu kritisieren?
Ja, natürlich. Teil davon ist, dass man seinen hohen moralischen Stand verliert darüber, wer wen kritisieren darf. Amerikanische Politiker haben hier überreagiert. Und das hat sie jetzt stark eingeschränkt darin, über die Freiheit des Internets im nationalen Kontext auch nur zu sprechen. Jeder würde sie für scheinheilig halten. Aber auf der anderen Seite geht es auch darum, vorbildliche Verfahren zu etablieren und ihnen zu folgen.
Wie sollen die aussehen?
In vielen Ländern kann eine Regierung bei einer Internetfirma anrufen und sie zwingen, Inhalte von ihren Servern zu nehmen, nur weil sie ihnen nicht gefallen. Das ist eine Situation, die man vielleicht nicht gerade schaffen will. Denn wenn der Inhalt illegal ist, dann muss das vor Gericht verhandelt werden, um eine faire und verantwortungsbewusste Entscheidung zu bekommen. Aber so etwas darf nicht auf politischen Druck passieren.
Wie soll der Westen denn reagieren, um Oppositionelle in autoritären Regimen zu unterstützen?
Ich habe kein Problem damit, wenn die Cyber-Utopisten all diese Mythen und Ideen in ihrem Kopf behalten - solange sie die Politik oder die öffentliche Meinung nicht beeinflussen. Aber die Frage ist doch, wie sich das auf Politik auswirkt.
Und?
Momentan kommen die Leute, die sich für die Freiheit des Internets einsetzen, nicht aus der Außenpolitik. Wenn man sich die Zusammensetzung im State Department anschaut, dann kommen die meisten dort aus dem Technikbereich. Die wissen alles über Silicon Valley, aber sehr wenig über den Iran. Das sind Leute, die ich von diesen Entscheidungen sehr gern fernhalten würde. Ich hätte da lieber Leute, die Prognosen über Russland, Iran oder China treffen als über das Netz. Das ist die Richtung, in die die Debatte gehen muss.
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