■ Nebensachen aus Madrid: Blitzableiter als Atommüll
Ach, waren die sechziger Jahre doch unbeschwert. Die friedliche Nutzung der Atomenergie wurde als großer Fortschritt bejubelt, gegen die kriegerische Variante schützte eine über den Kopf gestülpte Aktentasche oder ein Schulpult. Und es gab keine grünen Miesmacher. Nukleares lag im Trend, alle wollten am modernen Zauber teilhaben, und so mancher roch ein gutes Geschäft.
„Radioaktive Blitzableiter – der perfekte Schutz bei Unwetter“, verkündeten in Spanien bunte Anzeigen. Das Geheimnis solch revolutionärer Technik: In der Spitze des Metallstabs wurde eine kleine Strahlenquelle eingearbeitet. Diese ein bis fünf Millicurie, ausgehend vom radioaktiven Isotop Amerizium 241, sollten die Luft ionisieren. Indem der Zauberstab den Blitz besser an sich ziehen sollte, als herkömmliche Produkte, wollte man Wettergott Thor überlisten. So zumindest die pseudowissenschaftliche Erklärung.
Der Trick zog. Wenn schon durch die Franco-Diktatur von den wilden Sechzigern ferngehalten, so wollten Spaniens Hausbesitzer doch zumindest die Technik der neuen Zeit auf ihren Dächern haben. Firmen mit so klangvollen Namen wie Nuclear Iberica oder British Prevent verkauften insgesamt 25.000 Stück. Sie würden noch immer vor sich hin strahlen, hätten sich die Zeiten nicht geändert. Franco starb, und die entstandene Ökologiebewegung hielt auch in Spanien Einzug. Der Zauberstab wurde zum Problem.
1986 verhängte das Industrieministerium ein Installationsverbot und beauftragte „Enresa“, das staatliche Unternehmen zur Entsorgung von Atommüll, mit der Ausarbeitung eines Demontageplans. Die atomaren Müllmänner zögerten nicht lange. Eine Handvoll Lagerhallen sollten die Blitzableiter aufnehmen, um sie von dort aus in das Endlager für schwachradioaktive Abfälle zu verschicken.
Doch „Enresa“ hatte die Rechnung ohne die Umweltschützer gemacht. Die gefährlichen Blitzableiter vom Dach zu holen, erschien der Gruppe „Amigos de la Tierra“ ein lobenswerter Gedanke. Aber alle auf einem Haufen zu lagern? Dann doch lieber den Stab auf dem Dach als die Strahlungsquelle in der Hand. Die Proteste verhinderten die Genehmigung der Sammelorte. Die Dinger blieben, wo sie waren.
Ein Problem für „Enresa“, denn mittlerweile waren unzählige Anträge auf eine kostenlose Entsorgung eingegangen. 1993 kam den Atomspezialisten die rettende Idee: Recycling. Seither steigen die Arbeiter den ehemals Atombegeisterten aufs Dach und schrauben die strahlenden Spitzen ab. In Metallröhren verpackt geht die Reise dann ins staatliche Kernforschungszentrum in Madrid. Dort werden die radioaktiven Metallplättchen entfernt und gesammelt. Ein Käufer wurde schnell gefunden – das englische Unternehmen Amersham, Marktführer in Sachen Strahlenquellen für Forschung und Medizin.
16.500 Blitzableiter gingen bisher diesen Weg. Und noch immer flattern den Zuständigen monatlich um die hundert Entsorgungsanträge auf den Tisch. Doch alle 25.000 werden wohl nie verschwinden. Zwar ist die Verschrottung kostenlos, nicht aber der neue Blitzableiter. Der schlägt mit umgerechnet 3.500 Mark zu Buche. Bei „Enresa“ hofft man nur eines: Der Export von Atommüll ist in Spanien gesetzlich untersagt. Wenn da nur keiner auf dumme Gedanken kommt und klagt. Reiner Wandler
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