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Bitterfeld will nicht absaufen

Wie die Einwohner der einst dreckigsten Stadt der DDR die Aufbauarbeit der letzten zwölf Jahre gegen die Wassermassen verteidigen

Seit vier Tagen schleppt er Sandsäcke: „Das geht so hin und her, ohne zu denken“

aus Bitterfeld BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Reinhard Hentschel trägt einen Rucksack, um den Hals hat er sich einen Brustbeutel gehängt. Personalausweis, Geld, Unterwäsche, feste Schuhe – „das Nötigste“, sagt der 46-Jährige. Er ist mit dem Fahrrad auf dem Weg zu seiner Schwester im fünf Kilometer von Bitterfeld entfernten Fredersdorf. Vorher will er noch mal zur Polizei. Vor zwei Wochen wurde er bestohlen und hat an diesem Freitagvormittag deshalb einen Termin. Aber auf dem Revier ist nur noch der Pförtner. „Na ja, ich dachte mir das schon, dass das heute keinen interessiert“, sagt Hentschel.

Am frühen Donnerstagabend hat Hentschel Bitterfeld zum ersten Mal verlassen. Er hatte im Radio gehört, dass Bitterfeld evakuiert werde. Weil Wasser aus der Mulde ins Tagebauloch Goitzsche im Osten der Stadt flute und die Notdeiche am Rande dieses Sees zu brechen drohten. Hentschel wohnt im Erdgeschoss. Er fuhr zu seiner Schwester nach Fredersdorf. Dort hörte er im Radio: Doch keine Zwangsevakuierung, alles nur freiwillig, die Lage entspannt sich. Da fuhr er wieder zurück nach Bitterfeld, stellte Fernseher und Stereoanlage oben auf die Schrankwand und ging ins Bett. Als er um zwei Uhr nachts aufs Klo musste, wunderte er sich, den Fernseher in der Nachbarwohnung zu hören. Hentschel schaltete das Radio ein: Vielleicht bricht der Notdeich doch. Wenige Minuten später saß er auf dem Motorrad und fuhr zu seiner Schwester zurück. Aber dann war das Wasser doch noch nicht da, am Freitagmorgen.

So wie Hentschel ist es auch den anderen in Bitterfeld gegangen: In einer Art Schwebezustand zwischen hektischen Warnungen und vorsichtigen Entwarnungen, in der niemand weiß, ob die Stadt bald ein See ist. Ob aus den sanierten Gründerzeithäusern und dem historischen Backstein-Rathaus ein Schutthaufen wird. Ob all die Aufbauarbeit der letzten Jahre umsonst war, die Mühe vom Image der „dreckigsten Stadt der DDR“ wegzukommen.

Freitagmorgen. Auf den Straßen sind hunderte von Autos. Die einen verlassen Bitterfeld, um sich in Sicherheit zu bringen. Die anderen bringen auf Anhängern Sandsäcke, um das Hochwasser doch noch zurückzuhalten.

Schon zwei Tage lang haben mindestens 100 freiwillige Helfer aus der 16.000-Einwohner-Stadt und der Umgebung, Feuerwehrleute und Soldaten gehofft, dass das Wasser nicht über die Ufer tritt. Die ganze Nacht zum Freitag durch haben sie bei Flutlicht einen etwa 300 Meter langen Wall aus Sandsäcken errichtet und waren guter Dinge, dass er halten würde. Bis um zwei Uhr vom Krisenstab der Befehl kam, sich zurückzuziehen, wie ein Hauptfeldwebel der Bundeswehr erzählt. Es sei der Protest der etwa 100 freiwilligen Helfer aus Bitterfeld gewesen, dass nach einer halben Stunde Überlegen weitergemacht wurde. „Viele Freiwillige riefen: ,Weitermachen, weitermachen‘ “, sagt der Soldat. Er hat Ringe unter den Augen, die Haare sind verschwitzt.

Freitagnachmittag. Christian Schulze kann seine Arme kaum noch heben. Erschöpft zieht er sich die Gummistiefel aus. Er muss jetzt eine Pause machen: „Ich kann meine Arme kaum noch heben.“ Seit Dienstag hilft der 21-Jährige, das drohende Hochwasser abzuwenden. Eigentlich kommt Christian Schulze nicht aus Bitterfeld, sondern aus Groitzsch, einem Dorf in der Nähe. „Wenn man das Wasser sieht, sagt man sich: Da muss man helfen.“

Seit vier Tagen schleppt er schon Sandsäcke. Er schätzt, dass er seitdem etwa 15.000 Stück gehoben hat. „Das geht so hin und her, ohne zu denken“, sagt Christian Schulze. Dienstag, Mittwoch und Donnerstag war er bis 16.00 Uhr bei der Arbeit in einer Getriebefirma, danach hat er sich seine Gummistiefel angezogen und ist zum ehemaligen Tagebau Goitzschsee gefahren, der die Stadt zu überfluten droht. Gestern hat sein Chef ihm frei gegeben.

Hinter dem ersten Sandsackwall ist bereits ein zweiter aufgebaut. Dazwischen steht Wasser, das in den See zurückgepumpt wird. Wenigstens wird jetzt ein Teil des Wassers aus der Mulde umgeleitet.

„Bevor alles untergeht, versuchen wir, die Stadt zu retten“, sagt Christian Schulze. Seine Großeltern wohnen in Bitterfeld. Aber seit Donnerstag sind sie zu ihrem Enkel gezogen. Als Christian Schulze sehen muss, dass der erste Wall aus Säcken großteils durchgeweicht ist, ist er enttäuscht. „Man kann heulen, wenn man das sieht. Das säuft alles ab.“ Trotzdem macht er weiter.

Der Kulturpalast in Bitterfeld, gelegen am Rande des Chemieparks, ist seit Donnerstagmittag offizielle Evakuierungsstelle. Doch bis auf den Leiter des Hauses, Reinhard Waag, und zwei ABM-Kräfte ist das Gebäude leer. Diejenigen, die die Stadt verlassen haben, sind bei Freunden oder Verwandten, in Schulen im nahe gelegenen Wolfen oder in Hotels in benachbarten Orten untergekommen. Traurig ist Waag darüber nicht. „Wir haben ja nicht mal Decken hier. Nur unser normales Mobiliar. Mehr nicht.“ Er steht auf den Stufen des 1954 erbauten Gebäudes und blickt besorgt auf die andere Straßenseite. „Das ist das Areal E vom Chemiepark.“ Zu DDR-Zeiten standen dort „problembelastete Betriebe“, die längst abgerissen wurden. „Im Erdreich lauern noch Gefahren“, sagt er. Wenn das Wasser doch über die Sandsäcke wegspült – Waag will den Gedanken nicht zu Ende denken.

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