: Bitte mehr Glasnost
Birgit Janssen* war geschockt. Soeben hatte ihr vierzehnjähriger Sohn im Halbjahreszeugnis fünf Fünfer mit nach Hause gebracht, und auf die eilig organisierten Nachhilfestunden reagierte der Achtklässler nur kess: „Aber, Mama, wozu das denn? Ich kann doch eh nicht sitzen bleiben!“
Janssens Sohn besucht eine Gesamtschule im ostwestfälischen Bielefeld. Und tatsächlich: Ihr Filius kann trotz seiner vielen schlechten Noten an seiner Schule allenfalls in die Grundkurse abgestuft, nicht jedoch zur Ehrenrunde verdonnert werden. „Ich könnte zwar einen Antrag stellen, dass mein Sohn wiederholt“, sagt die Mutter. „Aber dann würden sich alle seine Energien darauf beschränken, gegen mich anzukämpfen. Und zum Lernen käme er noch weniger.“
Birgit Janssen ist sich sicher: Wenn es diese Gesamtschulregelung nicht gäbe, hätte sich ihr Sohn früher mehr angestrengt – allein schon aus der Angst vorm Sitzenbleiben. Nun aber steuert alles auf die Konsequenz zu, dass ihr Sohn den schulischen Rückstand im angelaufenen Schuljahr kaum noch wird aufholen können.
Auch mit dem Argument, ein miserabler Hauptschulabschluss würde ihm die Chancen für eine weiterführende Schule verbauen, so Janssen, sei kein Druck mehr auf ihren Sohn auszuüben: „Der will sowieso so schnell von der Schule wie möglich!“ Aber sitzen zu bleiben, also aus dem gewohnten Klassenverband zu fallen, hätte schon eine echte Drohung sein können – oder eben der Ansporn zum Lernen.
Was Birgit Janssen besonders ärgert: Erst über den Konflikt erfuhr sie, dass Schüler an Gesamtschulen nicht zwangsweise wiederholen müssen. Hätte sie das früher gewusst, hätte sie auf die Schwierigkeiten besser reagieren können. „Nun ist es dazu aber zu spät.“ Außerdem enttäuscht ist die Mutter von dem Engagement vieler Lehrer: Sie habe einige mehrmals gebeten, ihren Sohn intensiver zu betreuen – aber die Pädagogen hätten recht gleichgültig reagiert.
Den Entschluss, ihren Sohn auf die Gesamtschule zu schicken, bereut Birgit Jansen jedoch nicht grundsätzlich. Denn die Grundschulempfehlung nach der vierten Klasse hält sie für völlig verfrüht. „Von daher ist das Konzept der Gesamtschule schon gut.“ Wäre sie früher über das Sitzenbleiben aufgeklärt worden und hätten einige Lehrer etwas mehr Engagement gezeigt, sagt sie, wäre sie mit dem Schultyp rundum zufrieden.
(* Name geändert)
BJÖRN KERN
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