: „Bin ich ein Mörder?“
Calel Perechodnik war Ghetto-Polizist, glaubte durch Kollaboration seine Familie retten zu können. Er wurde grausam getäuscht und schrieb es auf ■ Von Sven Kramer
Es klingt paradox, doch als die Nazis die Juden Osteuropas umsiedelten, ghettoisierten und deportierten, um sie schließlich zu vergasen, waren sie auf die Hilfe der Opfer angewiesen. Für solch eine gigantische logistische Aufgabe konnte in Kriegszeiten kaum Personal abgestellt werden.
Also täuschten sie die Juden und spielten sie gegeneinander aus. Mit Privilegien und falschen Versprechungen machten sie einem Teil die Kollaboration schmackhaft, um gegen den Rest vorgehen zu können. Das Perfideste an dieser Herrschaftsstrategie war, daß auf diese Art zahlreiche Opfer zu Mittätern wurden.
Bei der Verwaltung des Ghettos und bei dessen Räumung halfen den Deutschen die Judenräte. Diese stellten eine Ghetto-Polizei auf – zur Durchsetzung der Nazi- Befehle gegen die eigenen Leute. Waren Beschlagnahmungen jüdischen Eigentums vorzunehmen oder eine bestimmte Anzahl von Juden zur Deportation abzuliefern, übernahmen Judenräte und Ghetto-Polizisten die Organisation. Während die Deutschen sich fein zurückhielten, überließen sie den Opfern die Dreckarbeit.
Zunächst glaubten diese jüdischen „Begünstigten“, sie würden aufgrund ihrer Loyalität verschont bleiben, doch zuletzt gingen auch sie in den Tod. Calel Perechodnik, dessen Lebensbeichte nach über fünfzig Jahren nun erstmals auf deutsch erschienen ist, war Ghetto-Polizist in Otwock, einem kleinen Ort bei Warschau. Auch er vertraute auf die Versprechungen der Deutschen.
Als diese mit ihrer Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik im Osten begannen, bewarb er sich bei der Polizei, denn alle sagten, Polizisten und ihre Familien seien sicher. Gut, daß wenigstens seiner Frau und dem zweijährigen Töchterchen nichts geschehen würde in dieser schrecklichen Zeit.
Wie sehr er sich täuschte! Doch woher sollte ein junger diplomierter Landwirt wie er auch wissen, daß die „Endlösung der Judenfrage“ ausnahmslos auf alle Juden zielte? Perechodnik kam aus dem kleinbürgerlichen Mittelstand, er war an Politik nur mäßig interessiert – ein durchschnittlich gebildeter Jude eben, wie er selbst sagt. Er dachte wie die Mehrheit, und die Mehrheit kannte Pogrome und Verfolgungen, doch den ungeheuren Gedanken an eine systematische Ermordung aller Juden konnte sie nicht fassen. So handelte jeder, als gäbe es noch Schlupflöcher.
Perechodnik riet seiner Frau ab, sich als Polin auszugeben, und er behielt seine Tochter bei sich, obwohl hilfsbereite Polen angeboten hatten, für sie zu sorgen. Als das Otwocker Ghetto im August 1942 geräumt wurde, holte er seine Frau aus einem Keller heraus, wo sie sich versteckt hatte. In der Überzeugung, daß Angehörigen der Polizei nichts geschehen würde, führte er seine Familie persönlich auf den Sammelplatz.
Dort taten die Polizisten an den bereitstehenden Viehwaggons ihre Arbeit, während ihre Frauen in einer Gruppe zusammenstanden: „Die Polizisten führen die eigenen Väter und Mütter in die Waggons, verriegeln selbst die Türen, so, als nagelten sie eigenhändig ihren Sargdeckel zu.“ Als die Arbeit getan war, erscholl der Befehl: „Alle Polizisten zum anderen Ende des Platzes im Laufschritt marsch!“ Die Maske war gefallen, jetzt erst begriff Perechodnik: er war auf das grausamste getäuscht worden. Kurzerhand wurden nun die Polizistenfrauen verladen: diese letzten hundert Personen trieben die Deutschen selbst in die Waggons.
Der Transport ging nach Treblinka, Perechodnik sah Frau und Kind nicht wieder. Hätte er mit ihnen fahren sollen? Aus Feigheit vor dem Tode ließ er sie im Stich: „Ich dachte so wie die anderen: wenigstens einen Tag später, wenn's sein muß auch mit Zwang oder gar mit Schande.“ Er blieb zurück, innerlich zerstört und schuldig geworden vor sich selbst. Im leeren Ghetto mußte er aufräumen, geriet dann in ein Arbeitslager und floh, als sich eine Gelegenheit ergab. Er schaffte es bis nach Warschau, wo er in einem polnischen Versteck noch den jüdischen Aufstand im Ghetto überlebte. Hier schrieb er seine Erinnerungen auf, die er selbst „die Beichte meines Lebens“ nennt. Geschwächt vom Typhus, starb er während des Warschauer Aufstandes im Jahre 1944. Das Manuskript hatte er kurz zuvor einem polnischen Freund gegeben.
Perechodniks Lebensbeichte ist keine literarische Offenbarung, der Landwirtschaftsingenieur schreibt holperig und unbeholfen. Trotzdem läßt das Buch einen nicht mehr los. Gerade die Sicht eines ganz normalen Menschen, mit all den kleinbürgerlichen Hoffnungen und Vorurteilen, enthüllt den kalkulierten Wahnsinn der Judenverfolgung. Perechodnik kann das Vernichtungsgeschehen nicht deuten, weil so etwas in seinem Bild von der zivilisierten Welt nicht vorkommt. Hilflos klammert er sich an die Möglichkeit des Überlebens im Schatten der Macht – er wird Polizist und Mittäter.
„Bin ich ein Mörder?“, dieses Psychogramm eines Menschen, der in die Schuld getrieben wurde, ist ein außergewöhnliches Zeitdokument. In seinem vorzüglichen Vorwort weist Micha Brumlik darauf hin, daß „hier zum ersten Mal der authentische Bericht eines Juden vorliegt, der selbst Teil der Mordmaschinerie wurde“, und fährt fort: „Die Lebensbeichte des Calel Perechodnik beweist, daß es noch Schlimmeres gab als die massenhafte, planmäßige Tötung menschlichen Lebens: diese Memoiren zeugen nicht von einer toten, sondern von einer ermordeten Seele.“ Sven Kramer
Calel Perechodnik: „Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten“. Aus dem Polnischen von Lavinia Oelkers. Vorwort Micha Brumlik, zu Klampen Verlag, Lüneburg 1997, Klappbroschur, 313 S., 38 DM
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