Bildungsrepublik Deutschland: Spät, aber wichtig
Bertelsmann-Vorstand Jörg Dräger sagt der Bildungsarmut den Kampf an. Gut so. Nur hätte man sich vom Star der Bildungsszene mehr Durchschlagskraft erwartet.
Deutschland im Spätsommer 2011. Gut zehn Jahre ist es her, seit die Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie eine Schockwelle über den lange so selbstbewussten Bildungsstandort Deutschland fegte. Seitdem hat sich viel getan in der Bildungsrepublik: Der Ausbau von Kita-Angeboten, Ganztagsschulen und die Einführung eines Bildungspakets für bedürftige Kinder und Jugendliche gehören zu den bekanntesten politischen Initiativen.
Erste Anzeichen eines bildungsklimatischen Wandels sind erkennbar. Es entsteht so etwas wie ein neuer Pragmatismus in der Bildungspolitik. Sogar die CDU-Spitze wendet sich vom dreigliedrigen Schulsystem ab. Eine weitere Entwicklung, die auf neue Formen von Pragmatismus und Gestaltungswillen schließen lässt, ist die Gründung einer Reihe von gemeinwohlorientierten Bildungsunternehmungen in den vergangenen Jahren: Rock Your Life, Arbeiterkind.de, Chancenwerk und Teach First Deutschland - eine Initiative, zu deren Gründern ich selbst zähle - sind nur einige Beispiele einer stetig wachsenden Educational-Entrepreneurship-Bewegung. Es bewegt sich was in der Bildungsrepublik.
In diese Zeit des Umbruchs fällt die Veröffentlichung von Jörg Drägers neuem Buch. Dräger, ehemaliger Wissenschaftssenator von Hamburg, kommt nicht eben früh mit seiner Analyse. Sein heutiger Arbeitgeber, die Bertelsmann Stiftung, gilt vielen als eigentliches Oberbildungsministerium der Republik. Und nun lädt ihr Vorstand Dräger also die Leser ein, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass in Deutschland bittere Bildungsarmut herrscht. "Dichter, Denker, Schulversager" lautet der Titel seines Buchs - das war die Erkenntnis der ersten schrecklichen Pisa-Nacht aus dem Jahr 2001. Im Untertitel verspricht er "Wege aus der Bildungskrise". Das ist spannend. Was hat Dräger zu bieten?
Es wird ein Herbst der Bildungsbücher, sie erzählen die Katastrophen der staatlichen und der Reformschulen. Jörg Dräger hat zehn Jahre nach Pisa die Bildungsarmut entdeckt (siehe Rezension links): "Dichter, Denker, Schulversager" (DVA, 2011, 17,99 Euro). Auch Heinz Bude beklagt die "Bildungspanik" (Hanser, 14,90 Euro). Das wichtigste Buch stammt von Jürgen Dehmers: "Wie laut soll ich denn noch schreien!" (Rowohlt, 19,95 Euro). Er beschreibt, wie er als Schüler auf dem Zauberberg der Reformpädagogik unter die Päderasten geriet: "Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch".
Zunächst die bedrückende, aber immer noch aktuelle Lage der sogenannten Bildungsrepublik: Jeder fünfte Jugendliche kann nur rudimentär lesen und schreiben - unter den Jungen ist es sogar jeder vierte. Annähernd 60.000 junge Menschen verlassen Jahr für Jahr die Schule ohne einen qualifizierenden Abschluss. Weit über 300.000 Jugendliche sind im sogenannten Übergangssystem "geparkt", weil sie keine Lehrstelle finden. Drägers Zwischenfazit: Unser Bildungssystem ist nach wie vor ungerecht, zukunfts- und letztlich wohlstandsgefährdend: "Es ist längst nicht mehr fünf vor zwölf." So weit, so schlecht.
Wenig Geld für Schule und Bildung
Dräger hat recht, wenn er warnend auf das Versagen des Bildungssystems für den unteren Rand der Bevölkerung verweist. Seine Botschaft ist so eindeutig wie optimistisch: Ungeachtet anhaltenden Kompetenzgerangels, hoher föderaler Komplexität und des fast schon naturgegebenen Verweises auf fehlende Haushaltsmittel - gute Schule ist machbar! Gute Schule, das heißt bei dem jungen Bildungsmanager Dräger: guter Unterricht und gute Lehrer.
Als ehemaliges Kabinettsmitglied einer Landesregierung ist sich Dräger des Vorbehalts leerer öffentlicher Kassen durchaus bewusst. Auch wenn Deutschland nach wie vor zu wenig Geld für Schule und Bildung ausgebe, sieht Dräger von undifferenzierten Forderungen nach einer simplen Erhöhung der Bildungsetats ab. Dräger fordert, bestehende Mittel zunächst sinnvoller - das heißt: mit dem Ziel einer höheren Bildungsrendite - einzusetzen. Das System des Sitzenbleibens, die Übergangsschleifen für Jugendliche ohne Lehrstelle und das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder nicht in Kitas schicken, sollten gekürzt und die Mittel stattdessen für den schnellen Ausbau von Kita-Plätzen und individuelle Förderung in der Schule eingesetzt werden.
Jörg Dräger fordert mehr Mut von den politischen Entscheidungsträgern. Sie sollten den politischen Willen aufbringen, gerade in gefährdete Schulen zu investieren - im Zweifelsfall sogar zulasten von Schulen in wohlhabenderen Umfeldern. Konkret schlägt er die Gründung von eintausend Magnetschulen vor, außergewöhnlich gut ausgestatteten Schulen in kritischen Schulmilieus nach amerikanischem Vorbild. Die überragende Qualität würde, so meint er, sogar wohlsituierte Eltern dazu bewegen, ihre Kinder auf Schulen in vermeintlich schlechteren Stadtteilen zu schicken.
Auch das ist kein ganz neuer Vorschlag, dennoch bleibt er richtig. Dräger identifiziert damit einen der gravierendsten Mängel im System: dass unsere Gesellschaft seit Jahren den Fortbestand von Schulen zulässt, die zwar nicht gezielt und trotzdem systematisch eine enorme Zahl an Bildungsverlierern produzieren. Als Antwort auf das Systemversagen präsentiert Dräger nicht etwa eine umfassende bildungspolitische Reformagenda, vielmehr will er eine Vielzahl tatsächlich umsetzbarer Empfehlungen vorstellen.
Der Appell greift zu kurz
Drägers Buch ist sicher ein hilfreicher Debattenbeitrag. Eine zentrale Forderung lautet: Bildungspolitik braucht mehr Mut, Mut zum Verzicht auf den ganz großen Wurf. Stattdessen Courage, eine Politik der kleineren, jedoch nachweislich effektiven Schritte zu gestalten, um die gröbsten Mängel, insbesondere die noch immer viel zu hohe Zahl an Bildungsverlierern, zu beseitigen. Drägers Appell greift an dieser Stelle jedoch zu kurz. Wie viele tolle, aber leider nur stecknadelkopfgroße Modellprojekte will man eigentlich noch auf die Landkarte der Bildungsrepublik pinnen?
Selbst in den Stiftungen, die so viel Gutes tun, aber eben immer nur in Bonsai-Format, zermartert man sich den Kopf, wie man Wirkung endlich auch in die Fläche tragen kann. So richtig es ist, auf Erfolgsbeispiele zu verweisen wie die Grundschule Kleine Kielstraße oder den Campus Rütli: Es gibt hunderte, ja tausende Rütli-Schulen in Deutschland. Diese umgekippten Schulen wieder auf die Beine zu bringen wäre das große, wichtige Ziel. An dieser Stelle kommen die Educational Entrepreneurs ins Spiel.
Erfolgreiche Bildungsunternehmer machen vielerorts vor, wie unter Einbeziehung neuer Akteure, häufig mit Unterstützung aus Wirtschaft und Stiftungen, wirksame Lösungen vor Ort entwickelt werden können.
Nachhilfestunden sind teuer und helfen nur Kindern aus begüterten Familien? Das Chancenwerk zeigt, dass es auch anders geht. Schulen haben keine Kapazitäten, um ihren Schülern neben Unterricht auch individuelles Coaching zugutekommen zu lassen? Rock Your Life zeigt eindrucksvoll, dass es Alternativen gibt. Mangelnde Attraktivität und fehlende gesellschaftliche Anerkennung verhindern es, talentierten Nachwuchs für Brennpunktschulen zu gewinnen? Teach First Deutschland liefert den Beweis, dass auch die Besten eines Jahrgangs bereit sind, sich bei bewusstem Gehaltsverzicht über zwei Jahre für benachteiligte Schüler einzusetzen.
Dabei könnte erfolgreiches Bildungsunternehmertum viel mehr sein als punktuelles Stopfen von systemischen Löchern. Educational Entrepreneurs stellen eine bislang kaum genutzte Ressource für Veränderungsprozesse im Bildungswesen dar. Sie bündeln gesellschaftliche Kräfte und machen im Kleinen vor, was Vorbildcharakter für große Veränderungen haben kann. Um die von Dräger skizzierten Erneuerungsprozesse anzustoßen, sollten Verantwortungsträger in Politik und Verwaltung viel stärker von unseren Erfahrungen Gebrauch machen.
Mehr Offenheit und Lernbereitschaft
Dies erfordert nicht gerade politischen Mut, jedoch eine andere Haltung gegenüber den neuen Mitgestaltern der Bildungslandschaft. Educational Entrepreneurs sind im besten Fall Lernpartner für Politik und Verwaltung. Ihre Erfolge, aber auch ihre Fehlschläge können helfen, Lösungen für Herausforderungen im Bildungssystem zu entwickeln.
Von Politik und Verwaltung erfordert dies Offenheit und Lernbereitschaft im Umgang mit den Bildungsunternehmern; die Educational Entrepreneurs wiederum müssen lernen, sich bewusst in die Karten schauen zu lassen und ihre erfolgreichen Ideen partnerschaftlich zu übertragbaren Modellen weiterzuentwickeln. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese Form von Kontrollverlust für einen Unternehmer eine echte Herausforderung darstellt.
Stiftungen wiederum können helfen, den Brückenschlag und Erfahrungstransfer zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft und den häufig jungen Unternehmern zu organisieren. Gemeinsam mit Partnern aus der Wirtschaft sollten sie nicht nur in die Gründung neuer Bildungsunternehmen investieren, sondern verstärkt Kapital für die kräftezehrende Expansionsphase bereitstellen. Denn was nützt es, immer wieder neue Ideen loszutreten, statt endlich einmal bewährte Ideen in die Breite zu tragen? Konkret: Drägers Idee eines Freiwilligen Pädagogischen Jahres nach Vorbild von Teach First Deutschland klingt vielversprechend, es wird aber nicht mehr als eine charmante Idee bleiben, falls Bertelsmann und andere Stiftungen nicht helfen, die Brücke zwischen Bundespolitik und Bildungsunternehmern zu bauen und in die Fortentwicklung von Teach First Deutschland hin zu einem Modell für ein bundesweites Programm zur Gewinnung pädagogischen Nachwuchses zu investieren.
Deutschland im Spätsommer 2011. Es bewegt sich was in der Bildungsrepublik. Wenn es uns gelingt, in einem langsam wachsenden Klima des bildungspolitischen Pragmatismus Lösungsmodelle zu erkennen, unkonventionelle Lernpartnerschaften zu schmieden, Zuständigkeiten klar zu verteilen und Prioritäten zugunsten benachteiligter Schüler zu setzen, wird Jörg Dräger vielleicht recht behalten: Gute Schule ist machbar.
Michael Okrob ist Mitbegründer und Gesellschafter der Teach First Deuztschland GmbH
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