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Bilanz der Frauen-EMWas uns die Vorrunde lehrt

Kluge TV-Expertinnen, konterfähige Underdogs und viele Tore. Nur dem deutschem Schlager kann die EM nicht zu Ruhm verhelfen.

Spanien schießt Tore, wie hier beim 3:1 Sieg gegen Italien in der Vorrunde Foto: Martin Meissner/ap

Schießt viele Tore!

14 Tore in zwei Spielen – die Bilanz des letzten Gruppenspieltags pointiert erneut ein Charakteristikum dieser EM: Es werden verdammt viele Tore geschossen. Spanien sticht dabei, wie so oft in diesem Turnier, besonders hervor. Fünf Tore im ersten, sechs im zweiten und drei im dritten Spiel hat die Selección verwandelt. Was führt zu den hohen Spielergebnissen? As simple as it seems: ein besseres Offensiv- als Abwehrspiel sämtlicher Teams. Hinten zieht’s durch die luftigen Ketten, vorne wird gekonnt kombiniert und abgeschlossen. Helfen können Lehrsätze aus der Kreisliga: immer mit zurückkommen, keine Bälle quer vor dem eigenen Tor und nah an der Gegnerin bleiben!

Habt keine Stars!

Wer als Person des öffentlichen Lebens kein Self-Branding betreibt, lässt sich ordentlich Scheine durch die Lappen gehen. „Self-Branding“ ist Englisch und steht für „Ich kreiere aus jedem noch so irrelevanten Schritt, den ich in meinem Alltag tue, einen Instagram-Post, baue eine große Followerschaft auf, schließe Deals mit Werbetreibenden und kassiere fett ab.“ Fußballer lieben diesen Trick, können sie so doch ihre mickrigen Millionengehälter ein wenig ­aufbessern. Auch im Frauenfußball haben sich vereinzelte Spielerinnen, beispielsweise die viel diskutierte Schweizerin Alisha Lehmann, dieses Game zu eigen gemacht. Turniere können diesem Geschäftsmodell einen besonderen ökonomischen Push geben.

Eigentlich – jedoch nicht diese EM. Bisher glänzen hier die Teams mehr, als dies einzelne Spielerinnen tun. Klar, es gibt welche, die besonders herausstechen, wie Legende Alexia Putellas, doch unterm Strich gilt die mediale Aufmerksamkeit weniger der Performance einzelner Spielerinnen als der Teamleistung. Vielleicht liegt es daran, dass der Frauenfußball nachhaltiger und die Teams stärker geworden sind. Sie hängen weniger als noch vor zehn Jahren von den paar Leistungsträgerinnen ab, die neben dem Fußballspielen nicht Vollzeit arbeiten gehen. So oder so, weniger Star-Besessenheit tut dem Teamsport Fußball gut.

Versteht die Schweiz!

Der Ruf der Trainerlegende Pia Sundhage litt zuletzt. Mit Brasilien schied sie bei der WM 2023 in der Vorrunde aus, mit der Schweiz wollte es bis zum Beginn dieser EM auch nicht so recht klappen. Unstimmigkeiten, zu hartes Training – es gab Gerüchte. Doch seit dem EM-Auftaktspiel führt die 65-jährige Schwedin das Team des Gastgebers mit Geschick und freundlicher Gelassenheit durchs Turnier. Auch während des Spiels hat sie Einfluss aufs Geschehen; Gegen Island und Finnland ­wechselte sie jeweils die entscheidenden Torschützinnen ein. Als Spielerin wurde Sundhage mit Schweden 1984 Europameisterin. Der Viertelfinaleinzug jetzt mit der Schweiz ist ein vergleichbarer Erfolg.

Hört keine Musik!

Was dem Wolle Petry nicht gelang, schaffen die DFB-Frauen auch nicht: Gassenhauer wie „Verlieben, verloren“ finden außerhalb deutscher Radiostationen keinen Anklang. Es ist die Erkenntnis, die wir bei beinah jedem European Song Contest auf die Schwarzbrotstulle geschmiert bekommen: Der europäische Markt bleibt hiesigem Kulturgut verschlossen, ganz gleich, ob es im Flanellhemd oder in kurzen Hosen daherkommt. Nicht jede Musik vermag Grenzen zu überschreiten.

Hört Expertinnen zu!

Da hocken sie und reden über Fußball: Mit Kathrin Lehmann, Almuth Schult und Fritzy Kromp hat sich in den vergangenen Jahren ein TV-Expertinnentypus durchgesetzt, der ein Spiel lesen und sich eloquent dazu äußern kann und nicht ins Studio gekommen ist, um einen Spruch rauszuhauen. Plötzlich liefern die ansonsten in diesem Bereich geschmähten Torleute – remember Oli Kahn! – plötzlich die beste Expertise: Lehmann und Schult standen zwischen den Pfosten und die Ex-Verteidigerin Kromp nur knapp davor.

Bleibt deutsch?

So kann man natürlich auch die Viertelfinals von Frankreich und England schauen: „Neuauflage vom Finale verschoben“ schreibt der Express unter souveräner Umgehung des Genitivs. Für die Botschaft, dass die DFB-Auswahl erst en passant die Französinnen rauswerfen wird, um später auf die jetzt schon ängstlichen Engländerinnen zu treffen, braucht’s keine Grammatik. Leichte Zweifel meldet immerhin sportschau.de an: „Deutschlands Weg ins Endspiel wird nun deutlich schwerer“, denn, so die bange Frage: „Halbfinale gegen Spanien?“ Wer spricht schon von einem Viertelfinale gegen Frankreich, wenn dieses Land Visionen hat.

Foult nicht so oft!

Eine Rote Karte gab es nur in dieser Vorrunde und die – alle haben es gesehen – wurde wegen Handspiels gezeigt. Auch die Bilanz der Gelb-Roten Karten fällt mit drei so aus, dass man von einem fairen Turnier sprechen kann. Bei der EM 2022 gab es übrigens überhaupt keine Rote Karte und insgesamt nur zwei Gelb-Rote. Ein anderer Indikator dürfen Elfmeter sein: zehn Stück bislang, im Turnier 2022 waren es insgesamt acht. Kleine Indizien, dass es im Frauenfußball künftig ein bisschen derber zugehen wird, lassen sich also markieren.

Schaltet um!

Belgien hat nicht wirklich eine Chance gehabt gegen die Turniermitfavoritinnen aus Spanien. Das 2:6 war durchaus ein angemessenes Ergebnis. Aber wie es den Belgierinnen gelungen ist, zweimal auszugleichen, das war durchaus sehenswert und spricht für einen Trend bei diesem Turnier. Die Underdogs pflegen ein elaboriertes Umschaltspiel. Da weiß jede, wo die Mitspielerinnen platziert sind, welche Laufwege sie einschlagen.

Auch die EM-Neulinge Polen und Wales haben gezeigt, dass die Zeit vorbei ist, in der technisch unterlegene Teams die Bälle planlos nach vorne schlagen. Und so konnte es dazu kommen, dass die spanische Abwehr ein paar Mal gewaltig ins Schwimmen gekommen ist. Belgiens Sieg im letzten Gruppenspiel gegen ausdauernd anrennende Portugiesinnen liefert den Beweis, dass die Fähigkeit zum schnellen Gegenangriff stilbildend ist für den modernen Frauenfußball.

Fans, bildet Blöcke!

Am Montagmorgen warteten etliche traurige Niederländerinnen am Badischen Bahnhof von Basel auf den Zug und ihre Heimreise. Schätzungsweise 10.000 Oranje-Fans hatten schon in der Stadt extrem für Stimmung gesorgt. Aber auch die Französinnen konnten sich nicht über mangelnde Unterstützung beklagen. Ob aus den Niederlanden, England oder Deutschland – überall werden touristische Rekordzahlen verkündet.

Die Fanpartys und -märsche sind mit dieser EM endgültig zum Bestandteil auch von Frauenturnieren geworden. In den Stadien sitzen die Lautstärksten mittlerweile wie bei den Männerspielen im Block zusammen. Beeindruckend auch die pausenlose Unterstützung des schwedischen Anhangs im Letzigrund von Zürich gegen Deutschland.

Macht euch den VAR zunutze!

Für den Gang zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen, reicht eine durchschnittliche VAR-Unter­brechung bei diesem Turnier eigentlich immer. Manchmal dauert die Überprüfung einer Abseitsstellung gar so lang, dass man getrost noch ein Oberhemd bügeln kann, bevor die Videoüberprüfung beendet ist. Dabei hatte doch die Uefa verkündet, dass mit der erstmals bei den Frauen eingesetzten „halbautomatischen Abseitsüberprüfung“ alles viel einfacher gehen soll.

Zehn ­Spezialkameras, die 29 verschiedene Körperpunkte pro Spielerin erfassen und die im Spielball integrierte „Connected Ball Technology“ zur genauen Bestimmung des Moments der Ballabgabe scheinen die Entscheidungen jedenfalls nicht zu beschleunigen.

Und wehe, eine Elfmeterentscheidung wird überprüft! Das dauert noch viel länger. Darauf noch eine frische Halbe aus dem Kühlschrank!

Stürmt die Bildregie!

Marko Saloranta hat das finnische Team bei dieser EM zu einigen bemerkenswerten Auftritten geführt, auch wenn es am Ende nicht für das Viertelfinale gereicht hat. In Erinnerung bleiben wird er bei den Fernsehzuschauenden aber wohl eher wegen seiner eigentümlichen Art, sein Hemd hochzukrempeln. Unzählige Male war er in Nahaufnahme zu sehen. So war das oft in den Übertragungen.

Während die Zuschauenden gewiss viel lieber mal die Wiederholung einer Torszene, den Auslöser einer umstrittenen Foul- oder Abseitsentscheidung gesehen hätten, bekommen sie Bilder von ulkig gekleideten Fans oder irgendwie dreinblickenden Trainerinnen geliefert.

Die Bildregie bei dieser EM ist derart unterirdisch, dass man sich beinahe schon den Hokuspokus wünscht, der bei der Klub-WM der Männer veranstaltet wurde. Da liefen die Schiedsrichter mit Bodycams über den Platz. Wie wohl das Hemd von Saloranta aus Schiedsrichterinnenperspektive ausgesehen hätte?

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