Bewegungen: Protest darf mit den erreichten Zielen nicht enden
Sowohl der Blick in die Hauptstadt als auch nach Stuttgart lehrt: Bürgerbeteiligung gehört auf Stand-By.
Wer etwas über Erfolg und Misserfolg von Protestbewegungen lernen will, für den lohnt ein Blick in die Widerstandshochburgen der Republik: Berlin und Stuttgart. Selten zuvor gab es dort mehr Aufruhr als jetzt, aber der Ausgang könnte unterschiedlicher – und lehrreicher – kaum sein.
Protest: eben noch laut, schnell erlahmt
Die Berliner haben mit ihrem Protest Fakten schaffen können: Der Wassertisch hat die Offenlegung der Zahlen erreicht; das Guggenheim Lab geht nicht nach Kreuzberg; die Flugrouten des neuen Flughafens Berlin Brandenburg führen nicht über den Südwesten Berlins, zum Leidwesen der Menschen im Südosten; das Spreeufer wird nicht gänzlich zugebaut. Ziel erreicht – und der eben noch so laut vorgetragene Protest erlahmt, oder verschwindet.
In Stuttgart sprechen die geschaffenen Fakten eine andere Sprache: Der Nordflügel des ehemals denkmalgeschützten Bahnhofs ist abgerissen, kein Baum, kein Strauch mehr zu sehen; der 200 Meter lange Südflügel ist fast verschwunden; der mittlere Schlossgarten in eine Wüste verwandelt. Ziel verfehlt, doch der Protest geht weiter. Denn was wie eine totale Niederlage aussieht, entpuppt sich als langfristiger Erfolg: Nach einem unerwarteten Wahlausgang singen viele Politiker plötzlich das Hohelied der Bürgerbeteiligung und wollen sie gar in der Verfassung verankern. Es gibt kaum eine politische Debatte, in der Stuttgart 21 nicht als Mahnmal verfehlter Politik erwähnt wird. In Baden-Württemberg wird gar eine Staatsrätin für Bürgerbeteiligung ernannt. Wie diese Beteiligung allerdings aussehen soll, lassen die Verantwortlichen gern im Dunkeln.
Dabei liegen die Rezepte für eine starke Bürgerbeteiligung auf der Hand. Das Kunststück besteht jetzt darin, die Stuttgarter Ausdauer mit der Berliner Durchsetzungskraft zu verbinden. Protest auf Stand-by.
Eine Gebrauchsanleitung:
1. Das große Thema: Atomausstieg, Fluglärm, unsinnige Verkehrspolitik, Gentechnik – da müsste was dabei sein. Nicht in Details verstricken, sondern die wichtigen Fragen stellen.
2. Die offene Tür: Unabhängig von politischer Couleur, egal ob ArbeiterIn, MigrantIn, Arzt oder Ärztin, Arbeitslose(r), PfarrerIn, jeder kann beitragen.
3. Die Weisheit der vielen: So viele Informationen wie möglich über das Thema sammeln und auf Demonstrationen, auf Flugblättern und über die Medien verbreiten.
4. Die Macht der Medien: Ohne die geht es nicht, und wenn die etablierten Zeitungen und Sender nicht unabhängig berichten, muss man selber welche schaffen. In Stuttgart sind das die Zeitungen einund20 und kontext sowie der Stream flügeltv.
5. Der gute Draht: PolitikerInnen der Stadt, der Region oder des Landes ansprechen, die es mit einer wirklichen Bürgerbeteiligung ernst meinen.
6. Das juristische Standbein: Rechtsbeistand organisieren, weil Konflikte mit staatlichen Institutionen fast zwangsläufig sind.
7. Der richtige Gegner: Immer gegen falsche Entscheidungen kämpfen, nicht gegen Personen.
8. Der richtige Ton: Ehrlich und klar sprechen, Floskeln und Worthülsen meiden – und die Gegenseite verstehen.
9. Kohle, Penunzen, Knete: Bürgerbeteiligung kostet Geld. Man muss spenden einsammeln und einen Verein haben, der diese verwaltet. Wenn es keinen Verein oder Ähnliches gibt – selber gründen.
Die das beherzigen, sind weit mehr als „Wutbürger“ oder „arbeitslose Berufsdemonstranten“, sondern längst Teil einer neuen Bürgergesellschaft. Einer Gesellschaft, in der die Belange der Menschen wieder im Zentrum stehen und nicht Partei- oder Lobbyinteressen. Lust auf Verantwortung und Einsatz, darum geht es. Und die gibt es überall, nicht nur in Stuttgart und Berlin.
Walter Sittler, 59, Schauspieler aus Stuttgart, taz-Genosse seit 2003.
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