Betroffenheitsinsel, Kranzabwurfstelle etc.: Ein paar Fäden mehr
■ Emsiges Weiterknüpfen am gordischen Knoten. Der Publizist Henryk M. Broder schlägt vor, das Holocaust-Mahnmal zugunsten einer Stiftung aufzugeben
Wenn Berlins Kultursenator Peter Radunski die Absicht hatte, mit der Neuausschreibung des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ der Realisierung des Projekts ein Stück näher zu kommen, dann darf man den Plan als gescheitert ansehen. Von den handverlesenen 25 Künstlern zeigten sich einige deutlich distanziert, andere waren weitgehend uninformiert und müssen sich zunächst einmal mit den Vorgaben vertraut machen. Das ist nach den drei Kolloquien über das Warum, Wo und Wie des Mahnmals nicht gerade ermutigend. Ein selbsternannter Problemlöser wie Radunski ahnt längst, daß er in konzeptionelle Aporien verstrickt ist. Falls nicht, dann hat es ihm jetzt einer gesagt.
In einem „offenen Brief“ hat der Publizist Henryk M. Broder dem Senator die Leviten gelesen (Tagesspiegel vom 22. 8.), weil Radunski bei dem Versuch, der politischen Korrektheit Genüge zu leisten, ins Schlingern gekommen ist. Der Senator hatte von der 1.000jährigen jüdischen Kultur gesprochen, die doch sehr viel älter ist und in den Gedanken des Senators möglicherweise durch eine andere 1.000jährige Geschichte heraufbeschworen wurde. Wenn man seine Sache besonders gut machen will, schlägt das Ungeschick bisweilen unerbittlich zu.
Die andere Falle ist heikler. Hält man am „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“ fest, so Broder, dann unterzieht man die Juden beim Gedenken erneut einer Sonderbehandlung. Das Wort hallt zynisch nach. „Außer der Tatsache“, so Broder, „daß auf der Werteskala der unwiderbringlichen Verluste jüdische Nobelpreisträger höher rangieren als rumänische Zigeunergeiger, gibt es keinen Grund, die Opfer der Nazis neu zu selektieren und zu hierarchisieren.“ Eben dies tue das geplante Mahnmal. Broders Gegenvorschlag scheint von bestechendem Pragmatismus. „Nehmen Sie das Geld, das für die Planung und den Bau des Denkmals ausgegeben werden soll und gründen Sie eine Stiftung, die den Opfern von heute helfen soll, Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden ... Nichts würde die Opfer der Nazis adäquater ehren als ein organisierter Versuch, den Opfern aktueller Gewalt beizustehen.“ Warum ist noch niemand früher darauf gekommen?
Daß Broder, einer der am meisten beachteten Publizisten im Lande, die Form des offenen Briefes wählt, muß stutzig machen. In der Regel meldet sich so eine moralische Instanz zu Wort, die von politischen Entscheidungen ausgeschlossen ist. Das reine Wort trotzt im offenen Brief der Sachzwanglogik, nicht selten auch der politischen Gewalt. Als reichte die Kraft des Broderschen Wortes nicht aus, sprang ihm noch Quartettfreund Hellmuth Karasek zur Seite. „Manchmal muß man Knoten, so lehrt die Geschichte, mit dem Schwert zerhauen.“
Es mag sein, daß Broder bezüglich des Senators Ungeschick den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Den Knoten zerschlagen hat er deswegen allerdings nicht. Das wird einem leitartikelnden Brief samt Randspalte wohl auch nicht gelingen. Die vielfältige Polemik gegen das Mahnmal, die so verschiedene Namen trägt wie „Kranzabwurfstelle“ und „Betroffenheitsinsel“ und die den Komplex des deutschen „Sündenstolzes“ aufwirft, ist ein Indiz dafür, daß das Gedenken nicht kurzerhand in einer Stiftung aufgehoben werden kann. Die Arbeit am Mahnmal hat längst begonnen. Broder hat den Knoten nicht zerschlagen, sondern allenfalls ein paar Fäden hinzugeknüpft. Harry Nutt
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