Bethanien-Besetzer über Vergangenes: „Sich erst mal verwirklichen“
Vor 50 Jahren besetzten Jugendliche das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanienkrankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Sie wollten selbstbestimmt leben.
Haus-Besetzer*innen stellen sich normalerweise nicht vor: Ich bin Frau XYZ. Es wäre schräg zu behaupten, dass dieses Gespräch in der „Sie“-Form stattgefunden hat. Außerdem sollte ursprünglich auch jemand von der aktuellen Bewohnerschaft dabei sein. Doch während die Oldies gerne erzählen, sind die Jungen eher verschwiegen und wollen nicht als Personen sichtbar werden.
taz am wochenende: Am 8. Dezember vor 50 Jahren kletterten Jugendliche über den Zaun des Bethanienkrankenhauses am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg und besetzten das ehemalige Schwesternwohnheim, das heutige Rauch-Haus. Wie lief das ab?
Marina: Das Bethanien stand damals seit anderthalb Jahren leer. Wir hatten einen guten Kontakt zu dem Hausmeister und wussten von ihm, dass das Gebäude beheizt wurde und in sehr gutem Zustand war. Wir entschieden uns, das „Martha-Maria-Heim“ mit seinen etwa 50 Zimmern zu besetzen. Da wollten wir ausschließlich mit Jugendlichen selbstbestimmt wohnen. Ich gehörte zur Vorhut. Wir waren gut vorbereitet, hatten Proviant und Kerzen dabei und Werkzeug, um das Schloss aufzubrechen. Als wir drin waren, haben wir uns still in einen Raum gesetzt und auf die Anderen gewartet. Nach etwa zwei Stunden hörten wir Stimmen im Garten, bald waren ungefähr 100 Leute im Haus.
Marina Müller (Jahrgang 1955) ist Besetzerin der ersten Stunde. Ihr Versuch, eine Lehrstelle als Druckerin zu finden, scheiterte, weil es damals keine Betriebe gab, die Mädchen ausbildeten. Danach begann sie eine Lehre als Werkzeugmacherin und wurde schließlich Erzieherin. Heute arbeitet sie in einer Montessori-Kita und lebt in Berlin-Kreuzberg.
Bernhard Käßner (Jahrgang 1953) hat die Theatergruppe Rote Steine mitbegründet und war zwei Jahre Mitglied von Ton Steine Scherben. Später betrieb er gemeinsam mit anderen eine Kneipe, arbeitete in einer Schreinerei und betrieb einen Trödelladen. Seit ein paar Jahren arbeitet er bei einer Security-Firma als Revierfahrer. Er lebt in Berlin-Reinickendorf.
Renate Drews (Jahrgang 1944) arbeitete als junge Sozialarbeiterin in Berlin-Kreuzberg und lebt dort heute noch. Sie war zunächst drei Monate offiziell im Georg-von-Rauch-Haus eingesetzt, um die Jugendlichen, die im Haus leben wollten, zu legalisieren. Danach weigerte sie sich, dort weiter offiziell tätig zu sein. Privat blieb sie Unterstützerin des Kollektivs.
Wo kamen die alle her?
Bernhard: An der TU hatte es ein Teach-in gegeben. Die Polizei hatte vier Tage vorher Georg von Rauch erschossen, und darüber wurde in der Veranstaltung informiert. Die Scherben [die Band Ton, Steine, Scherben – Anm. d. Red.] spielten, und Rio Reiser, der Sänger der Band, forderte die Leute auf, zum Mariannenplatz zu fahren und die Jugendlichen zu unterstützen.
Marina: Die (zögert) Bullen waren aber bald informiert. Mehrere hundert Leute standen dann noch draußen und wurden brutal abgedrängt.
Wie hattet ihr das Ganze vorbereitet?
Marina: Im Sommer 71 hatten wir drei Fabriketagen am Mariannenplatz 13 besetzt – zusammen mit der Stadtteilgruppe Kreuzberg, die sich gegen die Sanierungspläne des Senats engagierte, der Theatergruppe Rote Steine und der Band Ton, Steine, Scherben. Das Gebäude war sehr runtergekommen und nicht beheizbar. Zusammen haben wir versucht, die Räume zu renovieren und einzurichten, aber das gelang nur mäßig. Schon dort fand wöchentlich ein Plenum statt, an dem alle beteiligt waren. Unter uns Jugendlichen wuchs das Bedürfnis, auch gemeinsam zu leben.
Bernhard: Ich habe damals in der Theatergruppe Rote Steine mitgespielt, wir traten in verschiedenen Jugendheimen in Kreuzberg auf. Da ging es viel um Probleme von Lehrlingen und die beengten Wohnverhältnisse. Ich lebte zusammen mit vier anderen Jugendlichen in einer 2-Zimmer-Wohnung mit Außenklo. Wir brauchten alle ein eigenes Zimmer und waren sofort begeistert, das Bethanien zu besetzen.
Marina: Ich bin in einer 1,5-Zimmer-Wohnung im Hinterhof, Seitenflügel aufgewachsen. Die Toilette einen halben Stock tiefer teilten meine Eltern, meine Schwester und ich uns mit zwei Nachbarn. Das Badezimmer war in der Küche. Wenn ich mich morgens gewaschen hab, machte meine Mutter direkt daneben das Frühstück, und mein Vater kam auch noch rein.
Wie hat die Politik auf die Besetzung reagiert?
Marina: Das Bezirksamt wurde alarmiert, und wir forderten, dass der Jugendstadtrat Erwin Beck zu uns ins Haus kommen sollte. Der zählte zur linken SPD und war uns als Antifaschist bekannt. Wir hatten die Tür verrammelt, damit die Polizei nicht reinkommen konnte, und so musste er über eine Leiter durch ein Fenster einsteigen. Wir erklärten ihm, dass wir darauf bestehen, das Gebäude als selbstverwaltetes Jugendwohnhaus zu nutzen. Der Stadtrat wiegelte ab, das Haus sei schon für andere soziale Einrichtungen verplant – aber wir machten klar, dass wir das Haus nicht wieder verlassen würden. Schließlich willigte er ein, das Haus vorerst nicht räumen zu lassen.
Bernhard: Dann kamen auch schon die ersten Trebegänger, weil sich rumgesprochen hatte, dass es da ein offenes Haus gibt.
Was sind Trebegänger?
Renate: Das waren Kinder und Jugendliche, die von ihren Familien oder aus Heimen abgehauen waren und auf der Straße lebten. Die Zustände in den Heimen waren furchtbar. Es gab starre Regeln, Schläge, und Kinder wurden in Zellen, sogenannte Bunker, eingesperrt, wenn sie sich nicht fügten.
Bernhard: Nach 14 Tagen mussten wir Aufnahmestopp machen. Das Erdgeschoss und die erste Etage wurden für Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter und Arbeitslose bereitgestellt, die zweite Etage für die Trebegänger.
Marina: Wir mussten für den Nutzungsvertrag einen Verein gründen. Das aber konnten nur Volljährige, also Leute ab 21. Ich war damals 16. Ein paar aus der Stadtteilgruppe Kreuzberg haben das dann übernommen. Für die ersten sechs Wochen bekamen wir vom Senat 25.000 Mark für Lebensunterhalt, Farbe und Werkzeug für die Renovierung.
Bernhard: Viele haben einen roten Stern an ihre Tür gemalt und jeder konnte sich erst mal verwirklichen.
Marina: Für uns war aber ganz klar, dass wir die Verantwortung nicht an den Verein delegiert haben. Die Selbstorganisation war uns extrem wichtig. Der Senat forderte drei Sozialarbeiter im Haus, Renate war eine von ihnen. Sie haben uns nicht beaufsichtigt und sich nicht eingemischt, sondern uns beraten: Wie kann man mit dem Senat verhandeln, wo müssen wir Kompromisse eingehen und so weiter.
Renate: Es ging vor allem erst mal um die Legalisierung. Die Eltern mussten ja ihr Einverständnis geben, dass die Jugendlichen da wohnten. Wir haben mit ihnen, den Heimleitungen und Jugendämtern gesprochen. Und, ja, wir haben es in allen Fällen geschafft.
Das klingt jetzt alles nicht so schwierig. Gab es keine Widerstände?
Bernhard: Natürlich hat die Springer-Presse propagiert, dass das Haus von Terroristen, Gammlern und Arbeitslosen eingenommen wurde. Wir haben dagegen am 1. Mai ein großes Fest auf dem Mariannenplatz organisiert, um die Bevölkerung zu informieren, was wirklich bei uns lief.
Renate: Viele Leute fanden es eine Provokation, dass dieses riesige Gebäude leer stand. Es hat sehr geholfen, dass sich die Bevölkerung solidarisch verhielt – und das war auch notwendig, denn die Verhandlungen standen mehrmals auf der Kippe.
Marina: Viele Leute haben uns Möbel geschenkt, wir hatten ja nichts.
Renate: Auch die Situation mit den Trebegängern war damals in Berlin sehr präsent. Es gab kein Konzept als Alternative zur Heimerziehung. Da war dann die Hoffnung, dass das Rauch-Haus vielleicht eine Lösung sein könnte.
Es gibt ja auch einen „Rauch-Haus-Song“ von Rio Reiser. Welche Rolle spielte die Musik damals?
Marina: Für mich war die Musik wahnsinnig wichtig. Den Song „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ habe ich zum ersten Mal im Jugendzentrum in der Wrangelstraße gehört, und das hat mich mobilisiert. Ich dachte, wir müssen was tun gegen die ganze Ordnung. Auch das Theater Die roten Steine war superwichtig für uns Jugendliche, die wir ja nicht studiert oder viel gelesen haben.
Bernhard: Die Musik hat uns Hoffnung gegeben und Kraft. Wenn ich heute zurückdenke, was ich ändern wollte – und wie die Welt heute schlimmer ist als je zuvor … Ich höre deswegen nicht mehr so viel Scherben-Songs, weil ich dann eine Krise kriege. Die knallharten Texte berühren mich emotional sehr stark. Sie stimmen ja immer noch.
Wie war der Alltag im Rauch-Haus?
Marina: Klar war, alle Entscheidungen werden auf einem Plenum getroffen. Im ersten Jahr fand das zweimal wöchentlich statt. Da ging es um die Verhandlung mit dem Senat, Putzpläne und wer neu einziehen durfte. Es gab eine Kochliste; das gemeinsame Mittagessen war für uns sehr wichtig. Wir haben immer versucht, einen Konsens hinzubekommen. Und es ging uns nicht nur ums Wohnen. Draußen lebten und arbeiteten die Menschen ja weiter in Verhältnissen, die wir ungerecht und falsch fanden. Dagegen wollten wir was machen, auch in den Betrieben, in denen wir gejobbt oder eine Ausbildung gemacht haben.
Bernhard: Am Anfang war alles Happyness und Chaos. Aber dann wuchsen bald die Spannungen. Die Treber sind nachts in die Küche eingebrochen und haben sich aus dem Kühlschrank bedient. Als die Schüler dann morgens kamen, war kein Essen mehr da.
Wie habt Ihr euch finanziert?
Marina: Wir wollten für unseren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Wer eine Lehre machte oder jobbte, brachte den Lohn ein. Die Schüler hatten Anspruch auf Sozialhilfe. Wir wollten unabhängig sein vom Senat und Bezirksamt.
Bernhard: Es stand noch mal im Raum, dass der Senat uns ein zweites Mal mit einem größeren Betrag unterstützen würde. Ich wäre dafür gewesen. Es gab viel zu viele Probleme, zum Beispiel die Trebegänger zu integrieren. Aber das wurde abgelehnt.
Renate: Du glaubst wirklich, wenn ihr noch einmal eine finanzielle Unterstützung angenommen hättet, wäre es grundsätzlich anders geworden?
Bernhard: Das weiß ich nicht. Natürlich gab es Schmarotzer, die nichts beigetragen und nur Dreck gemacht haben. Vielleicht hätte man da ein bisschen mehr Geduld haben müssen. Auf dem Plenum konnten einige Leute sehr intellektuell quatschen, einer wollte sogar eine kommunistische Partei gründen. Das waren keine Themen für die Treber, die zum Teil nicht einmal richtig lesen und schreiben konnten. So ist es eskaliert: Wer nicht zur Schule ging oder arbeitete, musste gehen.
Marina: Ich erinnere mich an viele Diskussionen, wo wir versucht haben, Leute zu halten und zu unterstützen. Und wir haben auch gesehen, dass es Jugendliche gibt, die die Regeln nicht einhalten können. Mit den Trebegängern waren wir einfach überfordert, glaube ich. Wir waren ja selbst grad erst den Kinderschuhen entwachsen und haben nicht gesehen, dass die Kinder aus den Heimen im Grunde ein Nest gebraucht hätten.
Renate: Ich finde, es stimmt beides. Ich fand es richtig, dass ihr die Entscheidung getroffen habt zu arbeiten, um euch zu finanzieren. Gleichzeitig war das eine sehr politische Idee, der auch nicht alle folgen konnten – auf keinen Fall die Trebegänger. Die sind da rausgefallen. Wenn jemand aufgrund seiner Sozialisation so kaputt gemacht wurde wie diese Jugendlichen, dann brauchen sie Stabilität, auch emotional. Und die können ihnen Jugendliche nicht geben, die selbst auf der Suche sind.
Bernhard: Wir hätten kreativer sein können. Heute stellt man Holzspielzeug her, strickt Pullover und vertickt das. Im Haus aber war die Parole: Arbeiten gehen. Ich habe damals vorwiegend Theater gespielt und nur ein oder zwei Tage gejobbt. Viele im Haus waren aber der Meinung, wir müssen die Arbeiter in den Betrieben agitieren. Ich war ja bewusst aus diesen Zusammenhängen rausgegangen. Das hat dann dazu geführt, dass ich nach etwa einem Jahr ausgezogen bin und erst mal bei den Scherben mitgewohnt habe. Da sind auch viele Treber untergekommen.
Gab es auch Streit zwischen den Mädchen und Jungen?
Marina: Ja. Viele Mädchen fühlten sich von den Jungs unterdrückt – in ihren Beziehungen, aber auch auf dem Plenum. Wir haben uns deshalb zur Gruppe Rote Kralle zusammengeschlossen und uns gegenseitig Stärke gegeben. Da habe ich meine Interessen und Fähigkeiten überhaupt erst entdeckt. Und wir haben natürlich auch politische Arbeit gemacht, zum Beispiel gegen den Paragrafen 218.
Welche Rolle spielten die SozialarbeiterInnen?
Renate: Mein Vorgesetzter, der Stadtrat, wollte, dass wir im Haus bleiben, damit sie mitkriegen, was da los ist. Wir haben aber im Plenum diskutiert, dass Selbstorganisation und Sozialarbeit nicht zusammenpassen. Deshalb haben ich und meine beiden Kollegen nach etwa drei Monaten entschieden, dass wir aus dem Haus rausgehen. Formal waren dann die Sozialarbeiter aus dem Bezirk zuständig. Ich selbst habe mich dann weiter persönlich im und fürs Rauch-Haus engagiert.
Marina: Für mich waren Renate und die anderen beiden Sozialarbeiter sehr wichtig, weil sie mich ernst genommen und stark gemacht haben. Und es war gut, dass sie nicht mehr als Vertreter von staatlichen Stellen zu uns kamen. Den Staat hatte ich in der Schule kennen gelernt, und dort fühlte ich mich unterdrückt.
Wie ist eure Bilanz nach 50 Jahren?
Marina: Die meisten Besetzer der ersten Stunde sind wie ich nach drei oder vier Jahren ausgezogen. Aber der Geist ist in uns geblieben. Wir haben gelernt, uns von oben nicht sagen zu lassen, wie wir zu leben haben. Und wir haben unsere Interessen in die eigene Hand genommen. Das habe ich versucht weiterzuleben und weiterzugeben an meine eigenen Kinder und auch an die, mit denen ich später als Erzieherin gearbeitet habe.
Bernhard: Für mich war das Rauch-Haus eine schöne Zeit, ich hatte mein eigenes Zimmer und fand es gut, in einer Kommune zusammenzuleben. Dass das dann längerfristig nicht so gut geklappt hat, fand ich schade. Wenn ich damals in einen Betrieb hätte gehen müssen, hätte ich mich eher vor die U-Bahn gestürzt.
Renate: Das Rauch-Haus war ein wichtiger Impuls für die Sozialpädagogik: Gebt Kindern und Jugendlichen mehr Möglichkeiten, selber zu machen und selbst zu entscheiden. Da hat sich danach wirklich viel getan.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft