Besuch beim Teltower Tisch: Eintopf für die ganze Woche
Der Teltower Tisch hat seit einiger Zeit genug Essen für alle Bedürftigen. Hartz-IV-Empfänger, aber auch Rentner. "Denen geht es oft noch schlechter." Ein Blick ins Abseits der Armut.
Anfang der 1990er-Jahre wurde in Berlin die erste "Tafel" gegründet, ihre Tätigkeit bestand im Einsammeln und Verteilen übrig gebliebener, nicht mehr verkäuflicher Lebensmittel für Arme nach dem amerikanischen Vorbild der "Food Banks" beziehungsweise des "Second Harvest". Was damals für Obdachlose gedacht war, wurde zu einem stetig wachsenden Versorgungssystem für eine stetig wachsende Anzahl arm gewordener Normalbürger.
Auch als Folge von Hartz IV entstanden bis heute deutschlandweit mehr als 850 Tafeln, die ein Netz von etwa 2.000 Ausgabestellen beliefern, in denen laut Schätzungen des Bundesverbandes 1 Million Bürger vorstellig werden. Die Beschaffung und Verteilung von jährlich etwa 130.000 Tonnen Lebensmitteln verlangt logistisches Management, vor allem aber das Engagement zehntausender ehrenamtlicher Helfer und 1-Euro-Jobber.
Es gibt eine Reihe bekannter und unbekannter Sponsoren aus der Geschäftswelt, ganze Schulklassen spenden jedes Wochenende von ihrem Taschengeld, Betriebe sammeln, eine Supermarktkette hat ihren Pfandflaschenautomaten einen Knopf einbauen lassen, mit dem auf Kundenwunsch der Betrag den Tafeln gutgeschrieben wird. Die Tafel ist ein sogenannter Sympathieträger mit hohem Ansehen, die aus dem Nichts eine Art Schlaraffenland hervorzaubert.
Für viele Arme ist sie nicht mehr wegzudenken. Und auch nicht für viele Lebensmittelketten, Discounter und Geschäfte. Ehedem musste bezahlt werden für die Abholung des "Biomülls" - aus dem die Entsorgerfirmen eine Gärsubstanz herstellen, die sie an Biogasunternehmen weiterverkaufen, und die wiederum gewinnen aus 8.000 Tonnen Lebensmitteln ungefähr 3.000 Megawatt sauberen Strom.
Nun erspart die Entsorgung über die Tafeln nicht nur die Kosten, es gibt auch noch gratis eine Imagewerbung mit dazu. Und die steuerliche Abschreibung der Spende.
Die geschickte Nutzung dieser drei Fliegen pro Klappe hat die Tafel zu einer Art Wohlfahrtskonzern werden lassen, der längst seine Fühler nach einer europäisch vernetzten deutschen Foodbank großen Stils ausgestreckt hat. Und für die Strategen einer "Verschlankung der Sozialpolitik" sind die Tafeln, ist private Wohlfahrt, absolut unverzichtbar.
Was ursprünglich Philanthropie war, wird unter der Parole "Essen, wo es hingehört" zur schöngefärbten Abspeisung der Armen und zur Beihilfe bei der stillschweigenden Aushöhlung des im Grundgesetz vorgegebenen Sozialstaatsgebots.
Die Privatisierung des Armutsrisikos macht Fortschritte. Und nicht von ungefähr steht die berüchtigte Berater- und Rationalisierungsfirma McKinsey dem Bundesverband der Tafeln seit vielen Jahren zur Seite (ebenso den Tafeln in Österreich, der Schweiz, Kanada usw.). McKinsey war unter anderen beteiligt am Konzept von Hartz IV, an der Arbeitsweise der ARGEn und an der "Reform" der Sozialversicherung.
Vollkommen gratis hat der teure McKinsey für den Bundesverband einen Leitfaden und ein Handbuch für Aufbau und Betrieb einer Tafel verfasst, bindende Lektüre für jedes seiner Mitglieder.
Der "Teltower Tisch" befindet sich an einem etwas heruntergekommenen Teil der Hauptstraße von Teltow/Potsdam Mittelmark. Lebensmittelausgabe ist samstags von 14 bis 17 Uhr. Auf dem schmalen Grundstück, Potsdamer Straße 34, befindet sich im hinteren Teil ein Stück Rasen mit einem kleinen Kinderspielplatz, durch eine Hecke abgetrennt vom betonierten Hof vorn.
Dort steht ein flaches Gewerbegebäude, eineinhalb Zimmer groß, es dient als Ausgabestelle. Gegenüber hat jemand ein Holzgerüst gezimmert und mit Plastikplanen bezogen, eine Überdachung, darunter Stände und Obstkisten wie auf dem Markt. An den Pfosten hängen gelbe Schilder "Hier dürfen Sie sich selbst bedienen". Alles wirkt geordnet, säuberlich, aber recht ärmlich und beengt.
Ab 13 Uhr kommen Lieferfahrzeuge auf den Hof, darunter auch von der Potsdamer Tafel. Männer laden die Obst- und Gemüsekartons aus. Es gibt Mangold, viele Bananen, Melonen, Radieschen, Tomaten, Trauben, Zucchini, Auberginen, Möhren, Blumenkohl, viele Nektarinen, Sellerie, diverse Kräuter und so fort. Ein eingespieltes Team gestandener älterer Frauen sortiert und mustert aus.
Die Kartons und Kisten füllen sich mit gut aussehender Ware. Ein Fahrzeug bringt Brot, Brötchen und Backwaren, vorwiegend aus hellem Mehl. Alles wird hineingetragen ins Gebäude, und auch dort stehen ehrenamtliche Helferinnen bereit und füllen die Regale und Tische mit dem Angebot. Es gibt auch Bücher hier und einen Tisch mit Kinderspielzeug. Vier große Gewerbekühlschränke mit Glastüren, gespendet von einer Sparkasse, geben det Szenerie ein bisschen was von einem Geschäft.
Die Leiterin der Stelle, Schwester Ulrike Büttner von der Diakonie, schwirrt hin und her und hat ein Auge auf alles. Sie empfiehlt uns Wolfgang Leube als Gesprächspartner.
Der zögert nicht lange und bittet ins winzige Dienstzimmer. Wir erfahren, das er 1956 in Thüringen geboren ist, seit 1965 in Berlin lebt und ein richtiger Teltower geworden ist. Im Jahr 1973 machte er im VEB Teltomat seine Ausbildung zum Elektromonteur, daneben arbeitete er auf dem Friedhof Teltow. Im Jahr 1990 wurde er Friedhofsverwalter. Seit 2003 ist er ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Teltower Tisch.
Wolfang Leube bietet uns Kaffee an und erzählt: "Neun Jahre, sag ich mal, gibts jetzt diese Institution. Früher waren es mal vier Vereine, eine Arbeitsloseninitiative, die haben sich zusammengetan im ,Kleinen Netzwerk'. Die Räume waren in der Jahnstraße, in unserer alten DDR-Sparkasse.
Und die waren viel günstiger, platzmäßig. Und auch viel diskreter als hier, wo wir ja direkt auf dem Präsentierteller sind, ohne Zaun und Tor. Hier müssen die Leute bei Wind und Wetter im Freien anstehen, allen Blicken ausgesetzt. Viele schämen sich, gesehen zu werden. Es gibt auch leider viel Gerede in Teltow. Die Jahnstraße ist dann gescheitert, aus finanziellen Gründen, wir konnten uns nicht selber tragen, da hat keine Behörde geholfen, nichts.
Und wenn unsere Frau Kuke nicht gesagt hätte, wir können hierher - das war der ehemalige Angelladen ihres Mannes -, dann hätte es die Institution nicht mehr gegeben. Dann wäre es aus gewesen. Die Ämter haben sich nicht gerührt. Im Jahr 2004 hat dann das Diakonissenhaus Teltow/Lehnin die Trägerschaft übernommen.
Inzwischen geht es uns wieder ganz gut. Wir versorgen hier drei Orte: Teltow, Kleinmachnow und Stahnsdorf. Es kommen momentan 38 Familien mit zwei, vier, fünf oder auch zehn Kindern, und 80 Einzelpersonen. Da hängen also ein paar hundert Leute dran. In den letzten Wochen und Monaten kamen neue Leute dazu.
Wir haben auch immer etwa 15 bis 20, ob nun Rentner oder Invaliden, die keine Marken haben, die ,nicht berechtigt' sind. Die kommen aber trotzdem und bekommen auch, was eben noch da ist. Es wird niemand weggeschickt. Wir haben Marken, die werden von den Berechtigten in so einer Art Lossystem gezogen jede Woche, damit es gerecht zugeht und keiner sich benachteiligt fühlt. Die Familien kommen immer zuerst. Aber wir haben jetzt immer genug da, es bekommt also der Erste genug, und auch der Letzte kommt nicht zu kurz.
Wir hatten zwei Jahre lang einen Engpass bezüglich der Ware, da bin ich dann immer rumgefahren zu den Geschäften, um die Reste zu bekommen für die Leute, aber weil wir nicht als ,Tafel' anerkannt waren, haben wir nicht viel bekommen. Es gab dann auch Meinungsverschiedenheiten mit der Potsdamer Tafel. Doch jetzt werden wir von der Tafel beliefert, das ist ein Probelauf für ein halbes Jahr, und die Lage hat sich entschärft, es ist genug da. Also die Nummer ist eigentlich nicht mehr ausschlaggebend, aber wir behalten sie bei.
Ganz wichtig ist zu sagen, dass viele Rentner kommen, die ja oft mit nur 10 Euro über dem Limit liegen, also keinen Sozialausweis kriegen. Denen geht es oft schlechter als den Hartz-IV-Empfängern. Teltow und Stahnsdorf als Gemeinden, die stellen Sozialausweise aus, das heißt, die bearbeiten das dort, die urteilen nach den Papieren, was ich persönlich ja schön finde, aber ich möchte nicht beurteilen, wer bedürftig ist und wer nicht. Kleinmachnow stellt keine Karten aus.
In Kleinmachnow wohnen die Reichen, die Schauspieler, da gibt es keine Bedürftigen, anscheinend. Die kommen aber trotzdem bei uns rein, haben ihre Hartz-IV-Bescheinigungen und bekommen selbstverständlich was, wie jeder. Jedenfalls, wir geben den ,Abholern' - wir sagen ,Abholer' und nicht ,Kunden' wie die anderen, denn wir geben hier die Lebensmittel kostenlos weiter - denen geben wir so viel, wie da ist am liebsten.
Am Schluss muss hier alles raus, denn wir haben keine Lagermöglichkeit, außer den Kühlschränken. Und da drin wirds ja auch nicht frischer! Wir haben ein, zwei Leute, die Schweine haben, wo wir dann, bevor wirs wegschmeißen, denen Bananen geben, kistenweise, und Brot und Brötchen.
Abfall ist ein Problem, die Biotonnen sind schnell voll, und wir müssen aufpassen, dass keine Ratten kommen, denn da ist ja gleich der Kindergarten in der Nachbarschaft. Fleisch und Wurst kriegen wir immer relativ wenig, also da bleibt nichts an Abfall. Wir haben ein Ehepaar, die holen sich, wenn alles verteilt ist, die Reste an Obst.
Erdbeeren waren gerade viele da. Die machen daraus für die Leute Marmelade, und die Zutaten werden gegen Rechnung von uns hier bezahlt. Ist schön, so was! Und die Holzkisten holt der Siggi sich, der hat Ofenheizung und macht sie klein für den Winter. Wir versuchen, so viel wie möglich zu verwerten, denn das tut einem ja leid, es einfach wegzuwerfen!
Wir versuchen, es hier so gemütlich und schön zu machen, wie es mit unseren Mitteln geht. Aber wir sind zu beengt, die Leute können sich nicht mal irgendwohin setzen. Nur wenn der christliche Verein aus der Ruhlsdorfer Straße kommt - die machen alle 14 Tage ein Grillfest hier -, da stehen dann Bänke, aber ansonsten … Und im Winter findet die Ausgabe hier drinnen statt. Die Abholer stehen dann dicht gedrängt, aber irgendwie muss es gehen. Andere Räume bekommen wir einfach nicht.
Hier haben wir wenigstens einen Halbjahresvertrag, der sich jeweils verlängert, auf Widerruf. Die Diakonie würde uns vielleicht sogar Räume geben, aber das wäre für viele Abholer einfach zu weit. Viele gehen mit den Beuteln ja zu Fuß nach Hause, weil mit dem Bus fahren, das kostet ne Menge, das ist bei 359 Euro zum Leben und allem einfach nicht drin. Aber trotz allem, die Leute kommen gern hierher. Die Kinder sind auch gern da, spielen ein bisschen und kriegen was zum naschen.
Es ist ja auch die Geselligkeit wichtig für den Menschen, manchmal lebenswichtig. Wir haben einen Behinderten, Rollstuhlfahrer, er hat keine Beine mehr, jetzt hat er auch noch seine Frau verloren, der sagt, ich bin froh, dass ich immer ein paar Leute treffe und quatschen kann.
Man sieht es ja auch, dass die Leute hier viel miteinander reden. Sie tauschen sich aus beim Warten, manchmal tauschen sie auch Kochrezepte, da höre ich gern zu. Eine fragt, was machst du eigentlich mit dem und dem? Und der oder die erzählt, was sie kocht, und das macht dann die Runde.
Die Leute haben wieder Spaß am Kochen, und sie machen aus dieser ,Ergänzung' - denn das soll es laut Definition sein - was Gutes für sich, für ihre Familie. Und das ist wichtig, besonders für Frauen mit Kindern, die es ja in allem härter trifft. Denen reicht das vom Amt zugeteilte Geld noch weniger als den anderen.
Es ist einfach zu wenig, um sich gesund und gut zu ernähren, und schmecken soll es ja auch. Und das muss ich nun unbedingt noch sagen: Die Sachen stehen zwar unmittelbar vor dem Ablaufdatum oder müssen raus, weil nächste Woche Frischware kommt, sie sind aber noch tadellos in Ordnung. Also nicht nur ,verzehrfähig', sondern, ich sag mal, appetitlich. Alles andere wird von uns aussortiert, da achten wir Ehrenamtlichen sehr darauf. Denn dass jeder sich freut über die Waren, das liegt uns am Herzen.
Sonnabends sind wir schon früh hier, erst mal trinken wir Kaffee, besprechen uns, machen den Hof sauber und bereiten alles vor. Unter der Woche bin ich ab und zu da, schau nach dem rechten und gieße die Blümchen. Momentan sind wir 26 Leute etwa, anwesend sind heute 10. Die beiden Herren sind Strafarbeiter.
Sie sind sehr fleißig und wollen, auch wenn sie die Strafe abgearbeitet haben, hier bleiben. Und wir haben, was mich besonders freut, auch Jugend hier, fünfzehnjährige Mädels, die noch Schülerinnen sind und helfen wollen. Aber letzten Endes sind wir zu wenig Leute.
Was wir bräuchten, das ist eigentlich ein fester Stamm, der jeden Sonnabend zuverlässig hierherkommt, denn manchmal wird es eng. Das ist das Problem. Die Damen hier sind sehr engagiert, teilweise schon sehr lange. Einige kannten sich, glaube ich, noch von den Betrieben her, haben da lebenslang zusammengearbeitet, im Kombinat elektronische Bauelemente Carl von Ossietzky oder im VEB Geräte- und Reglerwerke. Das waren Großbetriebe hier in Teltow, die hatten über 5.000 Beschäftigte!
Man hat ja früher ewig in so einem Betrieb gearbeitet, das war wie Familie. "Das gabs nicht wie heute, diesen dauernden Wechsel. Oder gar Arbeitslosigkeit, das gabs gar nicht. Ich selbst habe bis zur Wende im VEB Teltomat gearbeitet, da wurden die großen Asphaltmischmaschinen zusammengebaut, Endmontage, und wir haben die Elektrik montiert, die Kabel verlegt. Die Maschinen gingen sogar in den Export ins nichtsozialistische Ausland!
Es sind jedenfalls Bekanntschaften entstanden, Ehen sogar. Und Freundschaften, die teils bis heute gehalten haben. Ich bin damals durch einen Kumpel zu diesem Verein hier gestoßen, zum ,Kleinen Netzwerk', damals noch, und ich habe es nie bereut.
Durch meine Friedhofstätigkeit kannte und kenne ich ja eine Menge Leute. Ich habe das damals schon als Schüler gemacht, mit 15 Jahren habe ich auf dem Friedhof Teltow angefangen, habe geholfen, Leute zu beerdigen, für 7,50 Mark Taschengeld.
Während der Lehre habe ich mal eine ,Kent' gekauft, die sooo lang ist, das war natürlich in der Disko der Hammer, als ich die geraucht habe! Ich bin dieser Arbeit treu geblieben, über die Lehre hinaus war ich immer auf dem Friedhof, jeden Tag, 37 Jahre lang, Montag und Donnerstag von 1 bis 18 Uhr, Sonnabend von 9 bis 14 Uhr. Ich habe die Urnen getragen und Gruften gemacht für die Erdbestattung. 25 Mark gabs dafür später, ein Schweinegeld!
Der Friedhof ist sehr schön, den müssen Sie unbedingt besuchen, fünf Hektar groß, mit vielen alten Bäumen. Und dort habe ich schon als junger Mensch kennengelernt, was seelischer Schmerz ist, was Probleme sind. Was das bedeutet, wenn ein Kind stirbt, ein Vater, ein Partner. Ich habe auch sehr viele Trauerreden gehalten, lange und kurze, schon bevor ich Friedhofsverwalter war. Da kamen oft Leute, die sagten, Sie sind der erste Mensch, mit dem ich seit Tagen rede.
Die schwerste Zeit, habe ich festgestellt, kommt immer erst nach dem Bestattungstag, dann ist der Tote unwiderruflich und für immer weg. Aber das Allerschlimmste ist, wenn Kinder gestorben sind, wie damals das achtjährige Mädchen beim Sturm 1972 am 17. November. Es war mein erstes Mal, so was vergisst man nicht. Oder die Kinder, die nach der Wende verstärkt durch Verkehrsunfälle ums Leben gekommen sind, durch neue Autos und Motorräder. Ganz schlimm. Ich habe das deutlich registriert auf dem Friedhof.
Im Jahr 1990 bin ich dann übernommen worden als Friedhofsverwalter. Es hat mich selbst gewundert. Heute ist das sehr eingeschränkt, ich habe zwar noch eine Stelle, aber nicht mehr in der Verwaltung. Damals bin ich ins kalte Wasser gesprungen. Ich dachte, den Friedhof kenne ich wie kein anderer, ich weiß, was gemacht werden muss. Aber ich habe alles falsch gemacht, anscheinend.
Heute kann ich es ja sagen, ich bin entmachtet worden, habe den Erneuerungsmaßnahmen im Wege gestanden. Man har mir vorgeworfen, dass ich nicht marktwirtschaftlich denke und handle. Gut, vielleicht hätte ich den Leuten grundsätzlich eine Doppelstelle für viel Geld verkaufen müssen, aber ich habe gesagt, Sie können auch eine Einzelstelle nehmen und dann später noch eine Urne draufbetten, das kommt billiger. Denn es ist ja alles sehr viel teurer geworden nach der Wende.
Manch einer war ein armes Schwein. Man versetzt sich ja auch rein in die Leute, und die waren mir dankbar. Oder wir haben auch alte Einfassungen gescheuert, ganz primitiv mit Sand und Bürste, und die dann für wenig Geld weiterverkauft.
Ich erzähle jetzt die ganze Zeit von mir, aber Sie wollen es ja wissen. Also in mir sträubt sich einfach alles … ja schon, ich bin Christ, aber das ist ganz schwierig. Eigentlich bin ich radikal, im Grunde. Ich verrate Ihnen, ich habe Karl Marx gelesen, freiwillig! Und ich bin ein Fan von Rosa Luxemburg. Daher werde ich auch als Roter beschimpft.
Mir haben immer die Ideale imponiert. Die hat unsere DDR-Führung ja leider schändlichst missbraucht und verraten, für meine Begriffe. Leider. Und ich bin auch von den 68ern ein Fan in manchem. Ich war eigentlich schon immer ,anti'. Ein ganz dummes Beispiel: Ich war im Ferienlager, und es sollte ein Stück aufgeführt werden.
Die Leiterin hat zu mir gesagt, und du, du machst den Prinzen! Und ich sagte, nein, auf keinen Fall, ich will den spielen, der gegen den Prinzen ist! Das ist bis heute so geblieben. Ich lege mich mit jeder Obrigkeit an. Gründe gibts ja genug. Und ich muss sagen, um das abzuschließen, ich bin auch maßlos enttäuscht worden von der sogenannten Demokratie, als ich gemerkt habe, es gibt sie gar nicht! Ich hasse das, wie man für dumm verkauft wird, und noch mehr hasse ich die Erhabenheit derjenigen, die Macht haben über die, die sie nicht haben.
So, jetzt wissen Sie, weshalb ich hier bin. Und ich weiß, dass sich dadurch nichts ändert an den Ursachen. Ist klar. Aber trotzdem, es ist wichtig für die Leute, dass wir das hier zusammenmachen jeden Samstag. Und ich sage Ihnen, ich sehe mich bei der ganzen Geschichte nicht als den, der hinter diesem Ausgabetisch steht, ich sehe mich auch als denjenigen, der davor steht.
Finde ich wichtig, dass man das weiß. Es kann mir passieren, dass ich morgen davorstehe, oder auch Ihnen sogar. Dass man dankbar sein muss, wenn man einen Beutel bekommt. Und was mich immer fertigmacht, wenn ich sehe, gleichaltrige Kumpel, mit denen ich in der Schule war, mit denen ich gelernt habe, wie die hierherkommen heute. Also, das ist für mich ein Problem.
Das sind Kumpel, die einen ordentlichen Beruf hatten ihr Leben lang, die Familie haben und dann wie viele plötzlich ihre Arbeit und alles verloren haben. Ein direkter Spielkamerad von mir kommt auch. Der hat studiert, ist hochintelligent, hat ein großes Wissen und alles, und dieser Mann findet keine Arbeit mehr und schlägt sich mit Hartz IV und 1-Euro-Jobs rum.
Da komme ich dann schnell ins Nachdenken: Wie kann das denn sein, dass diese Gesellschaft das angeblich nicht brauchen kann, dieses Wissen und diese Kenntnisse, dass der Mann einfach nichts mehr wert ist?! Die Logik verstehe ich nicht. Es geht nur noch um Geld, Geld, Geld! Den ganzen Tag in allen Nachrichten.
Geld hat schon auch eine Rolle gespielt früher in der DDR, aber nicht die Rolle, die es heute spielt: die Überlebensrolle! Und ich sehe das hier besonders deutlich, auch bei den Kumpels. Ich schäme mich zwar nicht, wenn ich die treffe, ich bin ja nicht dafür zuständig, was passiert, aber ich habe ein flaues Gefühl im Magen, ehrlich gesagt.
So, jetzt muss ich mal ein bisschen was arbeiten. Heute ist nicht so viel los, gestern war ,Geldtag', unserer Erfahrung nach kommen dann einige nicht. Die wollen wahrscheinlich lieber mal richtig einkaufen gehen, im Supermarkt."
Wir bedanken uns für das Gespräch. Während Elisabeth den leicht verlegenen Herrn Leube fotografiert, gehe ich hinaus und mische mich unter die Wartenden. Der Hof ist voll mit plaudernden Menschen, die in Grüppchen wartend beieinanderstehen. Dann werden Nummern aufgerufen, die Betreffenden treten mit ihren Taschen und Beuteln zu den Ständen.
Ich spreche eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern an, stelle mich vor und frage, ob ich sie begleiten darf bei ihrem Rundgang. Sie nickt unbefangen und erzählt, dass sie Hartz IV bekommt, ihr Mann arbeitet halbtags und macht eine Ausbildung zum Altenpfleger. Sie öffnet ihren Einkaufstrolly, nimmt, was sie braucht von den freundlichen Ehrenamtlichen. "Ja, Nektarinen sind sehr gut", sagt sie, "die kann man nämlich liegen lassen, bis sie reif sind. Einige von den Honigmelonen auch, bitte."
Sie verstaut diverse Gemüse und Salat, trifft ihre Wahl wohlüberlegt. Auch die Kinder dürfen mit entscheiden. Sie sagt. "Ich bin jetzt seit vier Wochen dabei, meine Mutter auch, und ich muss sagen, ich bin superzufrieden. Wir leben seitdem sehr gesund. Gesünder als vorher und auch sehr abwechslungsreich. Das ist ja alles sehr wichtig, wenn man Kinder hat, die möchten ja auch zugucken, wie die Mutter kocht.
Denn es ist doch so, dass man vom Geld, das man kriegt, nicht das richtige Essen kaufen kann. Ich sag mal so: Es reicht zwar hin, um eine Familie mit drei Kindern zu ernähren, was wir an Geld bekommen, aber eben mit viel Dose und Nudeln wenig Frisches. Für frische Sachen reicht es einfach nicht." Inzwischen wurde auch die Markennummer der Oma aufgerufen, sie verstaut ihre Waren und gesellt sich zu uns. "Na, heute ist ne Menge da!" Die Tochter sagt: "Ja, es ist richtig gute Ware dabei, echt super, ich muss sagen, es war jedes Mal so." - "Die Kinder können frisches Obst und Gemüse essen", sagt die Oma, "ganz anders als früher."
Die Mutter nickt und sagt: "Ich bin über meinen Schatten gesprungen. Hatte gehört von dieser Stelle, aber ich dachte immer, ne, so nötig haben wirs nicht! Aber ich war richtig blöd. Wäre ich doch nur schon früher gekommen." - "Ja", fügt die Oma hinzu, "es wird ja sonst alles nur weggeschmissen in den Läden." Wir gehen ins Gebäude. Dort bekommen die beiden Frauen Brot, Brötchen, Hefeklöße und Milchprodukte. Die Palette des Angebots ist groß: Bioquark, Biomilch, Frischkäse, mehrere Sorten französischer Ziegenkäse liegen bereit, Joghurt in Mengen, Butter, Eier, Aufschnitt.
Sogar echte Crevetten und künstliches Krebsfleisch sind im Angebot für den, der es mag. Die Kinder stehen vor dem Kindertisch und singen im Duett: Wir möchten ein Mal…buch, ein Mal…buch…" Und sie bekommen ein Malbuch von Frau Kuke. "Für ein Lächeln", sagt sie, "es kostet nur ein Lächeln." Der kleine Junge bekommt auch noch einen Plastiklöwen mit beweglichen Beinen geschenkt, und als ich ihn nach zehn Minuten draußen wiedertreffe, lächelt er noch immer.
Ich treffe auf die kleine Gruppe ohne Marken. Sie warten geduldig. Eine ältere Frau sagt: Wenn man keine Nummer hat, dann muss man halt ausharren bis zum Schluss, aber sogar dann, wenn man drankommt, ist noch genug da. Genug für alle, da hat keiner das Nachsehen." - "Ne", sagt eine Rentnerin, "vor ner Weile wars noch ganz anders, da brauchte man ja gar nicht mehr herkommen. Jetzt haben sie in Hülle und Fülle. Man kann nicht meckern. Nur Fleisch ist immer wenig. Aber es geht auch ohne. Ne, ich muss schon sagen, ist gut hier, und die Mitarbeiter sind richtig freundlich und hilfsbereit."
"Gleich geht es los, ich sehe ihn schon", sagt ein Mann mit Brille. Aber die Rentnerin schaut auf ihre Uhr und sagt: "Ne … noch fünf Minuten. Na, ich freu mich schon auf die Paprikaschoten und alles. Das ist ja immer sehr gut noch, das Obst und Gemüse. Ein dünner Mann, der bisher geschwiegen hat, ist anderer Meinung: "Ich sehe das nicht so!
Das sind alles alte, abgelaufene, überlagerte Sachen, die sie im Geschäft gar nicht mehr bis Montag aufheben können. Das wird ziemlich schnell schimmlig oder schlecht, gerade das Gemüse. Und wenns mal angegangen ist, dann ist es angegangen. Sicher, man kanns wegschneiden, aber der Schimmel ist überall. Es ist gefährlich, den Schimmel mitzuessen!"
Die Runde schweigt und macht abweisende Gesichter. Nur die Rentnerin erklärt unbeeindruckt: "Also, ich habe noch keinen Schimmel gefunden. Man muss es ja nicht aufheben tagelang. Ich wasche die Sachen gut ab und koch mir einen schönen Eintopf für die ganze Woche. Dann habe ich auch gleich was, wenn die Enkel kommen."
Wolfgang Leube nähert sich, begrüßt die Markenlosen und gibt die Reste frei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge