Besuch bei der Oldenburger Tafel: Paralleler Supermarkt

Hochkonjunktur herrscht im Moment vielleicht nur hier: Ein Nachmittag bei der "Oldenburger Tafel", die inzwischen von mehr als 3.500 Menschen genutzt wird.

Wer keinen Honig will, der bekommt halt ein paar Kartoffeln mehr. Bild: JENS UTHOFF

"Einmal gemischt", das bekommen sie an der Gemüsetheke am häufigsten zu hören. Wie in einem Gemischtwarenladen stapeln sich Brot und Brokkoli hinter dem Tresen. Ebenso uneinheitlich ist auch die Kundschaft: Da ist der junge Mann mit der Baseballcap und den Kopfhörern im Ohr; die Frau mit Kopftuch, zwei Kinder an den Händen; der ältere Herr mit seiner Gehhilfe. Was alle eint: Sie haben kein Geld für etwas zu essen.

Im Juni 2008 hat die Oldenburger Tafel ein neues Quartier bezogen, dreihundert Quadratmeter, zwei Minuten vom Bahnhof entfernt. Insgesamt gibt es in der Bundesrepublik rund achthundert Tafeln, in Bremen und Niedersachsen allein sind es 100. Aus gemeinnützigen Spenden und den Resten der Supermärkte verteilen sie Lebensmittel an Bedürftige.

Als bedürftig gilt in Oldenburg, wer Leistungen nach Hartz IV bezieht und einen so genannten Oldenburg-Pass hat. Die dortige Tafel gibt es seit 1996. Täglich zwischen 13 und 16 Uhr ist zentrale Essensausgabe, darüber hinaus werden Kindertagesstätten, Horte und Einrichtungen für alte Menschen beliefert. Insgesamt erreicht die Tafel 3.500 Menschen in und um Oldenburg. Mehr als zwei Prozent der Bevölkerung.

"Ein neues Gesicht", sagt ein magerer Mann mit Blick auf den neuen Mitarbeiter der Essensausgabe, "woher kommen Sie denn?" - "Aus Bremen." - "Ach, aus der Frikadellenstadt!" Hier aber gibt es an diesem Nachmittag keine Fischfrikadellen, dafür Kartoffeln, und die im Übermaß. Ein kleiner Junge krakeelt. Er wollte Weintrauben. "Heute nehmen wir Erdbeeren", sagt seine Mutter, "und Schluss." Seine Schwester hat sich durchgesetzt. Und zweimal Obst gibt es nicht.

"Wir haben immens hohen Zulauf derzeit", sagt Inka Ibendahl, Vorsitzende des Vereins "Oldenburger Tafel". Ihre Stimme hält noch durch, die kräftige Frau mit kurzen, gräulichen Haaren selbst ist etwas angeschlagen. "Pro Woche kommen bis zu 30 Nutzer und Nutzerinnen dazu." Sie entschuldigt sich kurz, muss einem der "Kunden" das mit den farbigen Kärtchen erklären: Jeder Farbe ist ein Halbstundenfenster an der Essensausgabe zugeteilt. "So müssen wir das machen." Es habe durchaus schon Situationen gegeben, in denen die Nutzer ihre Ellenbogen einsetzten.

Um die 90 Ehrenamtliche sind für die Oldenburger Initiative im Einsatz, die meisten einmal in der Woche. Handwerker blieben gleich als Helfer da; Jugendliche, die ihre Sozialstunden hier ableisteten, arbeiteten freiwillig bei der Tafel weiter.

Zuletzt gab es Berichte, nach denen es in Oldenburg und anderswo einen massiven Spendeneinbruch gegeben habe - die Wirtschaftskrise sei Schuld, natürlich. In Oldenburg ist das nicht der Fall. Das zeigt auch der "neue Stolz der Einrichtung", so Ibendahl: ein begehbarer Kühlschrank. Und draußen steht ein nagelneuer Kleinbus.

Am Verkaufstresen hätte ein Mann statt Salat lieber Paprika. Die sind aber knapp heute. Er bekommt schließlich eine einzige. "Wie auf einem Basar gehts hier manchmal zu", sagt der athletische Student. Er hilft an der Obsttheke aus - um kein Bußgeld zahlen zu müssen, wegen eines Fahrvergehens. Jetzt kommt eine Nutzerin, sie trägt eine modische Weste, eine Lederhandtasche, roten Lippenstift. Man könnte ihr wohl auch im Theater begegnen. "Ich kann mich so schlecht entscheiden", sagt sie, "Brot gabs ja massig", aber mit Obst und Gemüse sehe es "ja nicht so gut aus". In der Tat: "Bananen", kann der Student noch anbieten - "oder Bananen."

In der allgemeinen Flaute erleben die Tafeln einen Boom. Auch die Finanzierung über Firmen- und Stiftungsgelder funktioniert. Die Tafel in Verden konnte zuletzt 170.000 Euro durch die ARD-Sendung "Ein Platz an der Sonne" akquirieren. Weitere Spenden ermöglichen dort nun einen Neubau: Ende September soll das 450.000 Euro teure Objekt eingeweiht werden. Rasch wurden Stimmen laut, es sei unverhältnismäßig, so viel Gelder in einen einzigen Standort zu investieren. "Purer Neid", sagt die Verdener Tafel-Vorsitzende Heike Doppertin. "Es steht jedem frei, sich das zu erarbeiten, was wir uns hier erarbeitet haben." Man habe die Stadt um Räume gebeten; die habe es nicht gegeben.

Kritik äußerte die Linkspartei im Kreis Verden: "Mancher Unternehmer" glaube, er habe "mit großzügigen Spenden seine Schuldigkeit getan", und kaufe sich aus anderen Verantwortlichkeiten frei. Es geht dabei wohl um eine Standortbestimmung: Die Linke spricht einerseits vom "Tiefpunkt bundesrepublikanischer Sozialpolitik", ist sich andererseits nicht ganz sicher, wie sie zum Engagement der Freiwilligen steht.

Auch anderswo wird das Prinzip Tafel kontrovers diskutiert. "Fast ganz unten" heißt ein Buch des Karlsruher Soziologen Stefan Selke - ein Titel, der an die Reportagen Günter Wallraffs erinnert oder an Alexander Stenbock-Fermors "Deutschland von unten" aus dem Jahr 1932. Selke sieht ein strukturelles Problem im Umgang mit Armut: Die Tafeln als "Auffangbecken" oder Parallelwelt leisteten demnach Armutsbewältigung - die Bekämpfung bleibe auf der Strecke.

"Wir sind schon ein Politikum hier", sagt Inka Ibendahl. "Manche sagen, wir sollten mal ein paar Wochen schließen, damit die Leute sehen, was dann los ist." Warnstreik bei den Tafeln - die Menschentraube, die jetzt wieder vor der Tür steht, müsste dafür hungern.

Aber heute noch nicht: Für die kommende halbe Stunde kommen die mit den orangefarbenen Kärtchen dran. "Wir haben uns politisch auch dafür eingesetzt, dass Besitzer eines Oldenburg-Passes kostenlos den Öffentlichen Personennahverkehr nutzen können - erfolglos." Ibendahl rollt in ihrem Sessel zum Empfangstresen. Vor einem Absperrband drängeln die nächsten. Die Bananen sind inzwischen aus. Gut, dass der Teamleiterin etwas einfällt: "Holt mal die Honigpaletten rüber", sagt Gunda Christoph. Wer den Honig will, der bekommt halt ein paar Kartoffeln mehr. Von denen gibts heute schließlich satt.

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