Besuch bei der Berliner Piratenpartei: Wenn Techniker auf Künstler treffen
Vom Erfolg überrascht zieht die Piratenpartei nun viele Neugierige auf sich. Neue und alte Piraten eint der Glaube an die demokratisierende Kraft des Netzes – und Spaß an Visionen.
BERLIN taz | Im Café Breipott in der Skalitzer Straße herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Es ist Dienstag, viertel vor sieben, in einer Dreiviertelstunde beginnt das wöchentliche Treffen des Berliner Landesverbandes der Piratenpartei. Drei Piraten lümmeln sich in den Liegestühlen unter der Markise des Kreuzberger Cafés. Über ihnen baumelt eine Discokugel, aus den Lautsprechern wabert Lounge-Musik - Gema-frei: mitnehmen und weitergeben ausdrücklich erwünscht.
"Der Erfolg bei der Europawahl hat uns völlig überrascht", erzählt Florian Bischof. Der Berliner Spitzenkandidat für die Bundestagswahl klettert - eine Flasche in der einen, eine Zigarettenschachtel in der anderen Hand - aus dem Liegestuhl und setzt sich an einen der wenigen Tische. Bischof ist eher ein Mann der vielen Worte, doch wenn er über den Wahlerfolg spricht, verschlägt es ihm mitunter die Sprache.
"Wir dachten, wir sind gut, wenn wir 0,5 Prozent der Stimmen holen", sagt er. In ganz Berlin wurden es schließlich 1,4 Prozent, in Friedrichshain-Kreuzberg sogar 3,4 Prozent der Wählerstimmen. Eine Folge: Es wird eng im Café Breipott. Bischof: "Vor der Europawahl saßen wir hier zu zehnt. Nach der Wahl kam ich hier an, habe die Piraten gesucht, und sie waren überall."
Eine Erklärung für den Überraschungserfolg hat er auch parat: "Ich denke, die anderen Parteien können unsere Themen nicht besetzen." Das ist umso bemerkenswerter, als das Programm der Piratenpartei noch recht übersichtlich ist: Eine Änderung des Urheberrechts steht direkt nach der Präambel im Parteiprogramm, es folgen detaillierte Forderungen nach einem besseren Schutz von persönlichen Daten sowie Veränderungen im Wahlrecht, mehr Mitbestimmung, ein kleiner Absatz zu Kunst im öffentlichen Raum.
Kommentar: Kein bürgerrechtsfreier Raum
Umwelt oder Arbeitsmarkt, Stadtentwicklung oder Außenpolitik - zu solchen Themen hat die Partei bislang keine Position. "Aber jeder, der bei uns mitmacht, kann das ändern", wirbt Bischof.
Bischof selbst ist eines der Gründungsmitglieder. Schon zu seiner Schulzeit begann er am Computer zu programmieren; während seiner ehrenamtlichen Arbeit für ein Beratungsnetzwerk wurde er zum ersten Mal damit konfrontiert, dass persönliche Daten besonders schützenswert sind. Mit 29 Jahren gründete er schließlich mit einer Handvoll Gleichgesinnter den Landesverband der Partei.
Dabei haben sich die Gründer ganz bewusst für eine Partei und gegen einen Verein entschieden. "Wir mussten irgendwann einsehen, dass die Politik gegenüber einer Nichtregierungsorganisation an einem gewissen Punkt sagen kann, das interessiert uns nicht. Aber wir wollten tatsächlich Druck erzeugen."
Dieses Ziel rückt mit jedem Dienstag ein bisschen näher. Gegen acht Uhr haben sich um die 80 Freibeuter eingefunden - frisch beigetretene und altgediente. "Ich glaube, so viele Leute waren wir noch nie", sagt Vorstand Andreas Baum begeistert, als er die Anwesenden begrüßt. Es ist eine gemischte Gruppe: Punks und Künstler, eine Reihe von Studenten, einige, die sich noch während der Begrüßung durch ihr Netbook klicken.
Was ihnen allen gemeinsam ist: Sie sind jung und gehören sicher nicht zu denen, die sich "E-Mails ausdrucken lassen und die Antwort dann der Sekretärin diktieren", wie es Vorstand Martin Häcker ausdrückt. Die Menschenmenge passt nicht in den Vorgarten, sondern nimmt den gesamten Gehweg in Beschlag. Trotz der großen Zahl ist gerade mal eine Handvoll Frauen dabei.
"Der Frauenanteil nimmt gerade zu", räumt Bischof ein. "Das ist gut, vor allem für das Diskussionsklima." Aber auch für das persönliche Befinden: Bischof erzählt von einem ehemaligen Grünen, der in die Piratenpartei ein- und nach einem halben Jahr wieder austrat. Begründung: zu wenig Frauen.
Die Gruppe teilt sich in zwei Teile: Die alten Hasen ziehen sich ins Hinterzimmer zurück, Strategien zur Unterschriftengewinnung werden dort diskutiert. Draußen sitzen die Neuen, die erst einmal schauen wollen, wo sie hier überhaupt sind. Eine von ihnen ist die Musikerin Anna Frontzeck. Ursprünglich hielt sie sich nicht für einen Menschen, der einer Partei beitreten würde - doch für die Piraten könnte sie eventuell eine Ausnahme machen: "Ich glaube, dass die Piratenpartei einen guten Ansatz hat, eine globale Partei zu werden."
Der andere Teil sei die Diskussion um Urheberrechte, den sie aufmerksam verfolge: "Bestimmte Entwicklungen, wie die von Medikamtenten, könnten viel schneller gehen, wenn es keine Patente gäbe", glaubt Frontzeck. Und hofft, dass sie mit dieser Position bei den Piraten heimisch werden kann. Die Musikerin könnte sich auch vorstellen, das Parteiprogramm um einen sozialen Standpunkt zu erweitern. "Dass sich die Partei gerade noch formiert, finde ich eher interessant als abschreckend."
Euphorie ist vielen Besuchern an diesem Abend anzumerken. Vielleicht ist es der unerwartete Erfolg der Europawahl, der noch nachwirkt, vielleicht ist aber auch eine Grundbegeisterung für das Projekt einer neuen, jungen Partei. Egal ob es darum geht, welche Orte sich zum Sammeln von Unterschriften für die Zulassung zur Bundestagswahl am besten eignen oder um den Umbau des parteieigenen Floßes - die Diskussionen und Entscheidungen laufen schnell und unkompliziert an diesem Abend; es geht immer um die Sache, keiner zeigt schlechte Laune.
Während zwei junge Männer vor der Theke in ein Computerspiel vertieft sind, das über einen Beamer auf eine Leinwand projiziert wird, kommt die Listen-Zweite Heide Hagen an. "Eine Quotenfrau bin ich", sagt die Goldschmiedin und lacht. Weil sie sich habe breitschlagen lassen, konnte sie sich einen Listenplatz aussuchen. Aber um nicht unbescheiden zu wirken, habe sie Platz zwei genommen. Auch Hagen hat die Sorge um ihre persönlichen Daten in die Partei getrieben. "Keiner weiß, was mit denen gemacht wird." Nachdem sie einen Text über die Piraten gelesen hatte, trat sie 2007 spontan ein.
"Es ist wichtig, dass Politik von unten nach oben passiert, und das ist mit dem Internet möglich", ist sie überzeugt. Die "Quotenfrau" ist voller politischer Visionen. Die realistischste: ein so gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl zu erzielen, "dass alle erschrocken gucken". Die utopischste: ein 1. Mai, an dem Kreuzberger gegen Polizisten "Capture the flag" spielen - ohne Uniformen, ohne Steine, dafür mit viel Spaß. "Ich arbeite daran."
Florian Bischof hält auch diese Verrücktheit für das Erfolgsgeheimnis der Piraten. "Wenn Menschen aus der Technik auf Menschen aus dem künstlerischen Bereich stoßen, kann man ganz unglaubliche Dinge machen." Die nächste Herausforderung: bei der Bundestagswahl noch besser abschneiden als bei der Europawahl. Einen Schritt weiter hat sie dieser Abend schon gebracht: Fast 30 Mitgliedsanträge konnte Bischof einsammeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut