Besinnliche Rückblicke an Weihnachten: Verdrehte Augen
Mit Besinnung und Vorsätzen verbringen wir die Feiertage. Möglichst ohne Konfrontation irgendwie durchkommen. Und dann: ein neues Jahr.

ber die Weihnachtsfeiertage denken wir an das, was wirklich wichtig ist. In Deutschland nennen wir das Besinnlichkeit. Endlich Besinnung, im Gegensatz zum Rest des Jahres, wenn alle schubsen, schreien, in Hamsterrädern rennen und komplett von Sinnen sind. Besinnlich, besinnlicher, am besinnlichsten.
Heißt langsamer werden, runterkommen, vielleicht sogar erst denken und dann handeln. Vielleicht sogar erst denken und dann sprechen. Aber wer denkt, dass er ja wohl noch das N-Wort sagen dürfen wird, dem hilft auch ein Feiertagstempolimit nicht. Wir wollen über die Feiertage nicht streiten, also seufzen wir rassistischen Ausfällen beim Familientreffen hinterher. Seufzen und schweigen. Wie geht’s eigentlich Monika?
Über die Weihnachtsfeiertage blicken wir auf das vergehende Jahr zurück und suchen nach Vorsätzen für das beginnende. Weniger rauchen, mehr Sport, Digital Detox. Markus überlegt beim Joggen, wie viele Kalorien er schon verbrannt hat. Ich überlege kurz das Gleiche und füge hinzu, dass es nicht schadet, wenn ich schneller rennen kann als Männer oder Nazis oder Männernazis. Ich stelle fest, dass ich 2020 nicht nur schneller wegrennen können will, sondern auch länger dableiben. Nicht aushalten, aber konfrontieren.
Ich hasse Konfrontation, vgl. Hierse 2019a: Ich gehe in eine Flugzeugküche und suche Wasser. Ein Flugbegleiter schaut mich an und fragt: “Are you a mix?“ Ich sage, dass ich nur Wasser will. Er wiederholt “No, I mean, are YOU a MIX“. Ich sage, dass meine Mutter aus China ist. Er nickt zufrieden und gießt mir Wasser ein, ich gehe zurück zu Platz 33C, ich wollte eigentlich nur Wasser, aber man kriegt ja nichts geschenkt und jetzt bin ich ein Mix.
Jetzt bin ich weiß oder Wasweißichschon
Ich hasse Konfrontation, vgl. Hierse 2019b: Ich bin Teil eines Partygesprächskreises, in dem Leute erzählen, was sie so beruflich machen. Ich sage, dass es da einen Podcast von People of Color gibt. Eine Freundin fragt, was People of Color sind, ich fühle mich schuldig, weil ich eine Sprache benutze, die nicht alle verstehen. Ich sage, dass People of Color nicht weiß sind. Sie fragt, ob ich nicht weiß bin. Ich sage: “Je nachdem wer das entscheidet.“ Ein Teil des Partygesprächskreises verdreht die Augen, ich wollte eigentlich nur vom Podcast erzählen und jetzt bin ich weiß oder auch nicht, wasweißichschon.
Über die Weihnachtsfeiertage laufen Jahresrückblicke im Fernsehen. Kuratierte Retrospektiven erinnern an das, was neulich noch neu war und jetzt ein bisschen egal ist – Besinnung. Wisst ihr noch, als Horst Seehofer sich freute, weil an seinem 69. Geburtstag 69 Geflüchtete abgeschoben wurden? Ach so, das war 2018. Ist Seehofer eigentlich noch im Amt? Wisst ihr noch, die Proteste in Hongkong? Die wurden ja leider gewalttätig irgendwann.
Protestieren die eigentlich noch? Wisst ihr noch, Halle? Klar, die Anschläge haben ja uns allen gegolten. War der Attentäter nicht auch Gamer? Wisst ihr noch, die SPD? Wisst ihr noch, Handke? Wisst ihr noch, weiß ich doch. Besinnlich, besinnlicher, am besinnlichsten.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit