Beruf Sea Ranger: Der Herr der Heringe
Martin Saager ist Küstenfischer in Wismar. Jetzt drückt er wieder die Schulbank, um sich zum „Förster der Meere“ ausbilden zu lassen.
Eine Feuerqualle rutscht in die Kiste. Dann eine winzige Scholle, halb so dünn wie eine Kinderhand. Sie darf zurück ins Meer. Weil sie so wenig Futter finden, sind die Schollen unbrauchbar klein. Die Kurbel hält an, das Netz ist an Bord – und leer. „Kein einziger Hering, das ist ja der Wahnsinn“, sagt Saager.
Martin Saager ist 45 Jahre alt, ein großer Mann, die Kappe wirkt klein auf seinem Kopf. Seine Füße stecken in schweren Gummistiefeln, von oben bis unten ist er in blau-gelbes Plastik gehüllt. Saager macht das, was man passive Fischerei nennt: also ohne Motor und Schleppnetze in Küstennähe fischen. Er stellt seine Netze vor dem Wismarer Hafen, lässt sie warten und holt sie meist morgens wieder aus dem Wasser. Davon leben kann er nicht. Seit Oktober ist der 45-Jährige deshalb einer von 11 Fischern, die sich zu einem Sea Ranger ausbilden lassen, den so genannten Förstern der Meere.
Von Meer in die Schule
Das ganze ist ein Pilotprojekt. Für die Ausbildungsblöcke fährt er wochenweise in das zweieinhalb Stunden entfernte Sassnitz auf Rügen. Neben dem Fischen sollen die 11 zukünftigen Sea Ranger später zum Beispiel Tourist*innen aufs Schiff mitnehmen und über ihren Beruf informieren. Außerdem sollen sie Proben für die Forschung zuliefern können, und beim Monitoring von Fischlarven in Küstennähe helfen. Oder in Schulen gehen und Vorträge über Meeresschutz halten. Auch Seebestattungen durchführen oder Kooperationen mit Museen sind mögliche Aufgaben, oder die Mithilfe bei der Entwicklung von nachhaltigen Fangmethoden und Aquakulturen.
So ganz klar ist noch nicht, wie der Arbeitsalltag später aussieht, denn die angehenden Sea Ranger sind die ersten ihrer Art. Nach ihrer Abschlussprüfung im Juni sollen sie die Arbeit aufnehmen, dafür sollen sie 2.000 Euro monatlich bekommen. Die 11 Fischer haben bereits einen Verein gegründet, über ihn soll die Koordination von Aufträgen laufen.
Wieder zur Schule gehen, war erst „gewöhnungsbedürftig“, sagt Saager. „Wir sind aktive Fischer, und dann die ganze Zeit stillsitzen und zuhören, das war neu.“ Erste Aufgaben hat Saager schon übernommen, zum Beispiel Geisternetze aus dem Meer zu holen. Das Geld für die Ausbildung kommt vom Land Mecklenburg-Vorpommern, die Idee von der Fischereigenossenschaft Wismarbucht. Saager ist dort im Vorstand.
Vom Fischen kann in Deutschland kaum jemand leben
Die deutsche Ostseefischerei stirbt aus, und wird an vielen Stellen mehr oder weniger sozial verträglich abgewrackt. Die Idee der Sea Ranger ist der Versuch, trotz nahezu leerer Netze die aktive Fischerei aufrechtzuerhalten, und das praktische und kulturelle Wissen der Fischer über die Ostsee zu nutzen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dass vom Fischen in Deutschland so gut wie keiner mehr leben kann, ist nicht neu. 1992 waren es in Mecklenburg-Vorpommern noch 780 haupterwerbliche Küstenfischereibetriebe. 2021 waren es nur noch 184. Im Moment gibt es in dem Bundesland keine Auszubildenden zum Fischwirt oder zur Fischwirtin für die kleine Hochsee- und Küstenfischerei mehr.
Das liegt an drei Dingen. Erstens an Überfischung, vor allem von Brotfischen wie Hering und Dorsch. Der Rat der EU-FischereiministerInnen hat im Oktober 2023 den gezielten Fang des Herings endgültig verboten, damit sich der Bestand erholen kann. Die kleine Küstenfischerei ist davon zwar ausgenommen, das hilft ihr allerdings nicht, denn der Hering ist schon weitgehend weg. Zweitens haben Hitzeperioden in den letzten fünf Jahren das Wasser derart erwärmt, dass die Lebenszyklen nicht mehr zusammenpassen.
Der Dorsch laicht zum Beispiel deutlich früher als sonst. Das Phytoplankton, das er isst, wächst dann allerdings noch nicht, weil sich dessen Wachstum nach Lichtverhältnissen richtet und nicht nach der Wassertemperatur. Dadurch verhungern die Jungfische. Und drittens leitet die Landwirtschaft seit Jahren zu viele Nährstoffe ins Abwasser, wodurch sich unter anderem der Sauerstoffgehalt in der Ostsee stark verändert.
Forscher in Küstennähe
In der Ausbildung lernen die Fischer mehr über diese Veränderungen, und darüber, wie sie helfen können. „Wir haben zum Beispiel eine Forschungslücke zwischen Strandlinie und etwa 9 bis 20 Meter in die Ostsee hinein“, sagt Kai de Graaf. Der Naturpädagoge und Forscher arbeitet am Center for Ocean and Society der Universität Kiel und hat Teile der Sea-Ranger-Ausbildung mitkonzipiert. Wegen des höheren Tiefgangs kommen Forschungsschiffe nicht dort hin, wo die Fische laichen und wo sich die Jungtiere aufhalten. Fische in diesen Stadien können aber viel über Anpassungen der Arten an die Bedingungen aussagen. „Sea Ranger könnten mit ihren flachwassertauglichen Kuttern Forschungsdaten sammeln“, sagt de Graaf.
Fischerei ist ein wichtiges Kulturgut an der Ostseeküste. Um das weiterzugeben, lernen Saager und seine Kollegen zum Beispiel auch, Vorträge mit PowerPoint zu erstellen und sie vor Schulklassen zu halten. „Auch wenn das sonst nicht so mein Ding ist“, sagt Saager. Im Rahmen der Ausbildung waren sie in einer 4. Klasse in Sassnitz, Saager hat Kindern seine Fanggeräte erklärt. „In dem Alter sind sie echt noch neugierig“, sagt Saager.
Nachwuchs zu finden, beschäftigt Saager am meisten. Er lächelt, wenn er davon spricht, zum Beispiel von einem Viertklässler, der eine Sendung über die Ausbildung im NDR gesehen hat und deshalb bei ihm vorbeigekommen ist. Und von einem Achtklässler, der bei ihm ein Praktikum macht. Noch zwei Jahre hat der Schüler bis zum Abschluss. „Das könnt vielleicht was werden“, sagt Saager, der die Hoffnung auf einen Nachfolger in seinem Betrieb nicht aufgibt. Die Ausbildung zum Sea Ranger könnte junge Menschen in den Fischerberuf locken, hofft er.
„Klar, es ist ein Überlebenskampf, aber die Fischer, die ich kennenlernen durfte, sind sehr ruhige Leute“, sagt Forscher Kai de Graaf. „Solange das Schiff nicht sinkt, machen sie weiter.“ Seit 2016 hält sich Saager vor allem mithilfe seines Imbisses über Wasser, den er mit einem Kollegen betreibt. Den Fisch, den er dort verkauft, holt er zu großen Teilen bei Kollegen von Rügen. Ein Traum von ihm war der Imbiss nicht, aber er ermöglichte ihm, seinen Betrieb zu finanzieren. Dabei könnte ihm das Gehalt als Sea Ranger ebenfalls helfen. „Jetzt geb ich nicht mehr auf“, sagt Saager. Ein Küstenfischer hat schließlich immer Hoffnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich