Berliner Wahldesaster: Wahlen als Gesamtkunstwerk
Der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses beschäftigte sich mit dem Wahlchaos. Grüne und Linke üben nur vorsichtige Kritik am Senat.
Fast vier Stunden befasste sich der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses am Freitag in einer Sondersitzung mit dem Wahlchaos am 26. September. Neben Geisel, der in den letzten Tagen von der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden war, dass er keine Verantwortung für das Desaster am Superwahlsonntag übernommen hatte, versuchte auch die bisherige Landeswahlleiterin Petra Michaelis, den Abgeordneten Rede und Antwort zu stehen. Michaelis war nach dem Bekanntwerden der Pannen zurückgetreten. Der innenpolitische Sprecher der FDP, Paul Fresdorf, bezeichnete sie am Freitag als Bauernopfer. „Ich glaube, dass andere folgen müssten“.
Als letzten Amtsakt hatte Michaelis am Donnerstag das amtliche Ergebnis zur Abgeordnetenhauswahl veröffentlicht und dabei angekündigt, beim Berliner Verfassungsgerichtshof Einspruch gegen einzelne Wahlkreis-Ergebnisse einzulegen. In zwei Wahlkreisen in Charlottenburg-Wilmersdorf und Marzahn-Hellersdorf habe es Verstöße gegeben, die Auswirkung auf die Mandatsverteilung haben könnten.
Auch die Innenverwaltung behält sich Geisel zufolge vor, beim Verfassungsgerichtshof Einspruch gegen Ergebnisse einzulegen. Ob das geschehe, werde die nächste Woche zeigen, sagte Geisel am Freitag. Zuvor werde seine Behörde das Endergebnis und die Fehlerberichte analysieren. „Die Aufklärung des Vorgangs ist noch nicht abgeschlossen“.
Sechs Stimmen auf fünf Wahlzetteln
Neben der Bundestagswahl hatte am 26. September auch die Abgeordnetenhauswahl und die Kommunalwahl stattgefunden. Gleichzeitig stimmten die Berliner über den Volksentscheid der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen ab. Auf fünf Wahlzetteln galt es sechs Stimmen zu verteilen. Das alles unter Corona-Abstandbedingungen am Tag des Berlin-Marathons, fasste Michaelis die Lage am Freitag im Ausschuss zusammen. Und doch: „Ich war sehr zuversichtlich, dass alle Beteiligten gut vorbereitet sind“.
Das Gegenteil war der Fall. Die Liste der Beschwerden über Fehler und Unregelmäßigkeiten ist lang. Zu wenig Wahlzettel oder die falschen, zu wenig und überfordertes Personal, lange Warteschlangen vor den Wahllokalen und vieles mehr.
Schon 2020 gewarnt
Innensenator Geisel räumte bei der Ausschusssitzung ein, dass im Senat bereits 2020 diskutiert wurde, ob mehrere Wahlen am selben Tag nicht eine Überforderung seien. „Es gab Hinweise, dass es besser sei, das zu trennen“, so Geisel. „Der Senat hat bewusst eine andere Entscheidung getroffen.“ Bei einer Aufsplittung auf kurz aufeinander folgenden Sonntage wäre schwer gewesen, genügend Wahlhelfer zu gewinnen. Die Leute wären dann eher wahlmüde, aber gerade auch für einen Volksentscheid sei eine hohe Wahlbeteiligung wünschenswert. Eine Absage des Marathons sei aus wirtschaftlichen Gründen nicht infrage gekommen.
Geisel hatte hatte bereits in den vergangenen Tagen angekündigt, dass er im November eine Expertenkommission berufen will. Die soll sich mit der Frage beschäftigen, was organisatorisch verändert werden muss, damit ein solches Desaster nicht noch einmal passiert. Besetzt sein soll die Kommission mit Wissenschaftlern, Praktikern, Juristen, aber auch Menschen aus der Zivilgesellschaft. Es gehe darum, neue Standards zu setzen. Vielleicht sei es erforderlich, dass die Landeswahlleitung ein Durchgriffsrecht in den Bezirken habe, so Geisel. Oder dass es einen Standard für die Schulungen von Wahlhelfern gebe.
Vielleicht lag es daran, dass die SPD nun doch wieder eine Fortsetzung der aktuellen Koalition sondieren will: Die Abgeordneten von Linken und Grünen übten bei der Aussprache über das Wahlchaos ausgesprochen zurückhaltende Kritik. Sebastian Schlüsselburg (Linke) befand: „Sportereignisse müssen im Zweifelsfall verschoben werden.“ Und dass das Abgeordnetenhaus bei der Wahlvorbereitung genauer hätte hingucken müssen. Keine der Gewalten können sich raushalten, denn: „Die Wahlen sind auch ein Gesamtkunstwerk“.
Den Schuss gehört
Benedikt Lux (Grüne) bedankte sich, „dass der Senat den Schuss gehört hat.“ Nach den Wahlen habe das zunächst nicht so ausgesehen. Vielleicht liege das Chaos aber auch am Geld. 5,3 Millionen Euro seien möglicherweise zu wenig, um so einen Wahlmarathon zu finanzieren, meinte der Grüne.
Deutlicher wurde die von Franziska Giffey (SPD) nunmehr doch für eine Regierungsbündnis verschmähte FDP. „Das Hochamt der Demokratie ist beschädigt“, befand Paul Fresdorf. „Die Berliner können alles, außer alles“, rührte er in der Wunde, dass in Berlin überhaupt nichts klappt. Die Schuld für das Wahldebakel liege eindeutig beim Senat.
Burkard Dregger, bis dato innenpolitischer Sprecher der CDU, aber nicht wiedergewählt, erkundigt sich mehrfach, ob es im Vorfeld konkrete Warnungen vor einem Reinfall gegeben habe. Eine konkrete Antwort wurde ihm nicht zuteil.
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