■ Berliner Telegramm: Gegenwärtige Geschichte
Die Geschichte holt uns immer ein – die geglückte so gut wie die mißglückte. Denn irgendwer wird immer den Finger heben und sich und uns erinnern: da war doch...
30 Jahre Rudi-Dutschke-Attentat ist ein historisches Datum, weil einige, weil wir der begründeten Meinung sind, daß Geschichte notwendig ist zur Orientierung – generell, politisch-moralisch und individuell.
Was liefern uns die Presseagenturen an diesem Tag an historischen Daten?
10.000 Besucher in der „Tsingtau“-Schau des Deutschen Historischen Museums – Tsingtau in China, das war einer der „Plätze an der Sonne“ gewesen, den sich das nationalistisch indoktrinierte deutsche Bürgertum um die Jahrhundertwende gewünscht hatte, weil seine Herren mitspielen wollten im „Grand Game“ der Weltpolitik. Heute wollen deren Nachfolger (das entsprechende Ministerium heißt noch immer „Auswärtiges Amt“) deswegen in den Weltsicherheitsrat und schicken ihre Soldaten statt wie damals nach China nun nach Bosnien, auch als Teil einer internationalen Truppe wie damals beim „Boxeraufstand“.
Dasselbe Deutsche Historische Museum (DHM) zeigt übrigens gleichzeitig eine eindrücklich gelungene Bildersammlung zu den „Mythen der (europäischen) Nationen“: Während überall Nationales eine Renaissance zu erleben scheint, werden wir hier erinnert an die (O-Ton) „Irrealität des Konstruktes ,Nation'“.
Die am preußischen Boulevard Unter den Linden dem Deutschen Historischen Museum gegenüberliegende Staatsoper hat den „Freischütz“, die große deutsche romantische Oper, und die „Meistersinger“ neu im Programm, jenes Feststück des Dritten Reiches – und fragt sich und großkarätige Experten in einer soeben beendeten Vortragsreihe, „was deutsch und echt“ sei: Enthält das Nationale, enthält Kultur und eben die Musik ein Widerstandspotential gegen die nivellierende Globalisierung? Und dann ausgerechnet die pervertierte, weil pervertierbare Wagner-Musik!? Ein Jude argentinischer Herkunft (Barenboim), ein in den USA lebender Palästinenser (Said), ein Schweizer als Organisator und Diskussionsleiter (Danuser) diskutieren das mit deutschen Intellektuellen und dem Publikum – was ein erstaunliches Ereignis und in sich selbst schon ein Kommentar zum Thema ist.
Wir werden sehen, wie Götz Friedrich am Karfreitag mit dem deutsch-christlichen Monsterstück „Parsifal“ an seiner Deutschen Oper umgegangen ist – sie alle kreisen ja doch um dasselbe Thema: Deutschland und seine verklemmte Geschichte. Die Pressestelle der Deutschen Oper hat jedoch keine Andeutungen gemacht, was da als Diskussionsbeitrag zu erwarten ist.
Ein helles Licht unbeschwerter Geschichtserinnerung leuchtet von der Museumsinsel. Von dort berichtet dpa über die vierjährige (ungewöhnliche) Leihgabe antiker Fresken aus dem römischen Thermenmuseum, die einen Vorgeschmack geben auf das, was das Alte Museum am Lustgarten zu werden verspricht: ein historisch- kultureller Magnet im Zentrum Berlins.
Die große preußische Renaissance des frühen 19. Jahrhunderts hatte aus diesen Quellen einstmals jenes Wenige herausgefiltert, was an politisch-ästhetischen Tugenden Preußens erinnerns- und wiederbelebenswert ist. Voreröffnung am 22. April, Haupteröffnung 31. Mai.
„Bundeswehr bringt Drei-Tonnen-Findling zu KZ-Gedenkplatz Oranienburg“, meldet dpa unter „Priorität: 5“, also eigentlich unwichtig, unterste Stufe. Am 20. April (der hatte ja mal „Priorität: 1“) wird des 53. Jahrestages der Befreiung des KZ Sachsenhausen gedacht; der Stein war zur Bearbeitung für den Neubau der Reichshauptstadt „Germania“ vorgesehen gewesen, und die Sachsenhausener Häftlinge waren (neben anderen) die dazu notwendigen Zwangsarbeiter.
An jenem 20. April 1945 lebte H. noch und feierte mit Hitlerjungen bei Kaffee & Kuchen seinen 56. Geburtstag. Ihn haben wir überlebt, aber das Leiden an seiner Geschichte scheint mit größerer Distanz eher zu- als abzunehmen.
Das Holocaust-Denkmal ist da nur der derzeit sichtbarste Ausdruck. Helmut Kohl schreibt gerade laut der Deutschen Presse- Agentur an einen Überlebenden namens Ernst Müller, daß das „Ringen“ (!) jetzt ein Ende haben und eine Entscheidung getroffen werden müsse.
Wer aber „alle Beteiligten“ sind, die dann einen Konsens finden sollen, das bleibt so arrogant- elitär, wie diese moralische Frage an die gesamt Republik seit Jahren von Teilen der politischen Klasse behandelt wurde. Und – weiterhin dpa – auch das Bündnis 90/Die Grünen wollen nun eine schnelle Entscheidung als Zeichensetzung gegen „Ausländerfeindlichkeit“: ob die Entwürfe künstlerisch gelungen sind oder nicht.
Aber wozu soll dann nun konkret Ja gesagt werden? „Die Internationale Romani Union hat die Bundesregierung aufgefordert, Sinti und Roma als Opfer des Holocaust anzuerkennen“, meldet dpa am selben Tag.
Anläßlich des internationalen Tages der Roma und Sinti forderte deren Sprecher, „im Bereich des geplanten Holocaust-Mahnmals in Berlin auch den NS-Opfern der Volksgruppe einen ,würdigen Platz' einzuräumen.“ Ja, ist es denn noch immer nicht „Konsens“, daß es keine Völkermord-Opfer 1., 2. und 3. Klasse geben kann und darf? Die Geschichte ist offensichtlich nicht annähernd „bewältigt“, trotz aller Erinnerungsarbeit.
Harmlos dagegen die Meldung (alles vom selben Tage) über die Dresdner Sonderausstellung im 2. Weltkrieg verschollener und nun wiedergefundener Kunstwerke – mehr als hundert. Aber auch diese Diskussion, hierzulande überwiegend voller selbstgerechtem Pathos geführt mit wenig Sensibilität für die (vor allem) russisch-sowjetische Seite, wo wir Unwiederbringliches zerstört und uns am Wiederaufbau des Restaurierbaren (z.B. Sankt Petersburg) nicht mit einem Pfennig beteiligt haben, wird weitergehen, ist unerlöste Geschichte. Auch sie hat für dpa natürlich nur 4. Priorität. Aber was ist eigentlich wichtiger als die Kunst, in der Menschen und Gesellschaften sich vergeschichtlichen, Kulturgemeinschaften werden und sich uns Späteren überliefern, weil sie mit ihnen die banale Materialität der tagtäglichen Lebensproduktion überwunden haben?
Nichts mit Geschichte in solch ernsthaftem Sinn zu tun hat die Meldung „mittelalterliches Osterfest am Werbellinsee“, das am Karfreitag beginnt. Und doch: Hier wird die Geschichte eingeholt und kommerzialisiert, nicht aber als Frage an die Gegenwart zugelassen. Enthistorisierung durch brauchtümelnde Kostümbildnerei.
An die Realgeschichte hingegen erinnerte Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, der sich mit Ministerpräsident Stolpe zu einem öffentlichen Gespräch über Fremdenfeindlichkeit und Toleranz in Brandenburg ausgerechnet in einer Kaserne traf, die nach Zieten, dem preußischen Husaren-Haudegen des größten Vabanquespielers und zehntausendfachen Soldatenopferers der deutschen Geschichte, Friedrich II., benannt ist.
Weimar, damalige Arbeitslosigkeit und die Gefahr des organisierten Radikalismus der deklassierten Kleinbürger waren die historischen Menetekel. Stolpes Sprechblase dagegen: „Rassismus auf keinen Fall zu dulden“. Unverbindliche rhetorische Pflichtübung.
„Die Erinnerung an Zeiten, in denen der Staat die Würde des Menschen zur Disposition stellte, hilft uns, eine Wiederkehr solcher Zeiten zu verhindern“ – so laut dpa der brandenburgische Ignatz Bubis Justiziminister Bräutigam bei der Eröffnung einer Wanderausstellung über DDR-Justiz. Das Blabla von „der Geschichte“ haben sie inzwischen alle drauf auf ihrer öffentlichen Rednerpalette – aber wie lange noch lassen wir uns solche Heucheleien gefallen? Wie steht es nämlich mit den täglichen Verletzungen der Menschenwürde durch diese Landesregierungen, die Asylbewerber kaltschnäuzig abschieben, dabei Familien auseinanderreißen und Menschen in den Selbstmord treiben? Sie drehen uns und sich „Geschichte“ im Munde herum – und wir, die Adressaten dieser Redereien, lassen uns das auch noch gefallen. Um die „Funktion der Justiz als politisches Herrschaftsinstrument“ soll es da gehen – und es ist gleichzeitig die Herrschaft der alt-neuen deutschen politischen Klasse, die ihre Justiz zu eben demselben Zweck der Machterhaltung einsetzt, weil sie sich vom Thema Abschiebung von Ausländern Wahlerfolge verspricht.
Das Grundgesetz hatte mit seinem Asylartikel eine wirkliche Lehre aus der Geschichte ziehen wollen – wir haben erlebt, wie die wieder zugeschüttet wurde. Aber es gibt noch kritische Bürger, die das nicht hinnehmen. Wir selbst schreiben, wir selbst machen täglich das, was später Geschichte sein wird. Auch die unterlegene – z.B. die von 1968 und der Tod von Rudi Dutschke – gehört dazu, sie enthält das Potential von morgen, denn so, wie es ist, bleibt es nicht, und so wie es vor dreißig Otto Bräutigam Jahren war, ist es, allen Rückschlägen zum Trotz, auch nicht geblieben. Ekkehart Krippendorff
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