Berliner Szenen: Das kurze Leben
Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier.
M ein Nachbar aus dem ersten Stock hat mal wieder eine Bücherkiste auf das Fensterbrett vor unserem Haus gestellt. Bei Bücherkisten muss ich immer an ein Gespräch zweier Radio-Eins-Moderatoren denken. Der eine sagte: Also gestern Abend habe ich eine Bücherkiste vors Haus gestellt und weißt du, was passiert ist? Heute Morgen hatte jemand den Karton geklaut, aber die Bücher waren alle noch da.
Die Bücherkiste meines Nachbars wurde nicht geklaut. In dem Karton gab es schöne Bildbände über Florenz und Rom und lesenswerte Romane von Alberto Moravia, Sten Nadolny und Juan Carlos Onetti. Die Bücherkiste war jedenfalls randvoll und leerte sich peu à peu in den folgenden Tagen. Trotz des glücklichen Umstandes, dass die Menschen in meiner Nachbarschaft gerne gute Literatur lesen, begann ich mich zu ärgern. Denn einer meiner Lieblingsromane – „Das kurze Leben“ von Juan Carlos Onetti – wurde konsequent verschmäht. Wann immer ich nach Hause kam, schaute ich in die Kiste. Und wieder war Onetti ignoriert worden. Eines Nachts, fünf Tage nachdem mein Nachbar die Kiste herausgestellt hatte, kam ich etwas angetrunken nach Hause.
Es war windig, es nieselte, und ich schaute in die Bücherkiste, in der einsam und verlassen „mein Onetti“ lag. Jetzt reicht es mir, dachte ich. Ich nahm das kleine Taschenbuch an mich und stieg glücklich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. Ich hatte das Gefühl, mich um etwas Kostbares gekümmert zu haben. Als ich die Wohnungstür aufschloss, sagte ich zu meiner Freundin: „Schau mal, was ich gefunden habe“, woraufhin sie mir entgegnete: „Aber das Buch hast du doch schon.“ „Ja, ja“, sagte ich. „Das verstehst du nicht.“ Ich ging zu meinem Bücherregal und stellte Juan Carlos Onettis „Das kurze Leben“ neben Juan Carlos Onettis „Das kurze Leben“ und war mit mir und der Welt wieder zufrieden.
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