Berliner Szenen: Etwas breiter
Berlin ist wild. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier. Heute: Das blaue Kleid.
D reimal bin ich an dem Kleid vorbeigelaufen. Jedes Mal hatte ich den Hund mit und konnte deswegen nicht in den Secondhandladen reingehen, bei dem es draußen vor der Tür hing. Mittelblau, mit Blumen, wunderschön. Heute, beim vierten Mal, bin ich ohne Hund unterwegs und sehe, dass das Kleid von 24 auf 18 Euro runtergesetzt ist. Habenhabenhaben.
Ich mag den Laden. Die Verkäuferin sieht muttimäßig aus und sitzt im Sommer oft mit einer Tasse Kaffee in der Sonne. Ich nehme das Kleid und gehe in den Laden, um es anzuprobieren. Die Verkäuferin kommt mir entgegen. „Ähm“, sagt sie, „das steht nicht drin, ich weiß, das Kleid sieht weit geschnitten aus, aber es ist eine 34 oder höchstens ne 36.“ „Kein Problem“, sage ich, „36 passt mir, ich probiere es einfach mal an.“
„Nein“, sagt sie, und reißt mir das Kleid aus der Hand. „Das bringt nichts. Das haben heute schon zwei Frauen anprobiert, ich hab ja gesehen, wie das aussieht. Ich hab Angst, dass es platzt, wenn jemand da so etwas breiter ist.“ Sie hält das Kleid hoch und zeigt auf Bauch- oder Taillenhöhe. „Das geht nicht“, sagt sie, und hängt es wieder weg.
Ich stehe schockiert da. Glaube, mein Mund ist offen. Ich schaue an mir herunter. Ich trage eine weite Männercordhose von meinem Freund, und obenrum einen Wollpullover, darüber eine Fleecejacke und eine Lederjacke. Ich bin ein Yeti aus Stoffschichten. Sie bräuchte einen verdammten Nacktscanner, um darunter meinen Körper zu erkennen.
Ich bin so voller Hass, dass ich sie nur anstarren kann und nichts sage. Niemand reißt mir Kleider aus der Hand! Und niemand hat das Recht, mir zu sagen, ich sei an irgendeiner Stelle „etwas breiter“. Niemand!
Aber ich habe das Recht, den Hund das nächste Mal vor ihre Tür pullern zu lassen. Sehr entspannt verlasse ich den Laden. Andere Muttis haben auch schöne Kleider.
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