Berliner Szenen: Guter Punkt
In eine Regionalbahn gehen immer mehr Leute rein als man denkt. Und mehr als man will. Manche lutschen, manche stellen Fragen.
bertriebene Enge im Regio nach Wismar, verfluchter Freitagnachmittag. Irgendwo schreit ein Baby. Handyklingeln, eine Frau geht mit „Watt denn!“ ran. Je nachdem, wie ich stehe, kann ich mir aussuchen, ob mir das Hinterrad eines Fahrrads oder ein Kinderwagen in die Kniekehlen drückt.
Entscheide mich für das Fahrrad, weil ich dann das Kind im Kinderwagen angucken kann. Es hat eine leere Wasserflasche in den Händen und lutscht von allen Seiten dran. Manchmal guckt es hoch, checkt die Lage, lutscht weiter.
Vor mir steht ein Mann in einem T-Shirt, auf dem „Calniv“ steht, in der Schrift von Calvin Klein, nur halt Calniv. Ein anderer Mann tippt auf seinem Handy rum, er hat die Tastentöne an, piep, piep, piep, warum zur Hölle gibt es Menschen, die die Tastentöne anlassen? Piep, piep, piep, dann sagt er ins Telefon: „He Björn, ich bin’s, der Ossi. Na, ich, der Ossi! Jo. Genau. Wollt nur sagen, ich bin um halb sieben da. Jo, jo. Na ja, bin kurz vor Spandau jetze. Hm. Jo. Genau. Bis denne.“
Als wir in Spandau sind, sagt eine automatische Stimme: „Sehr geehrte Fahrgäste, bitte rücken Sie zur Fahrzeugmitte auf, um weiteren Fahrgästen den Einstieg zu ermöglichen.“ „Wo issn die Mitte?“, fragt eine Frau ihren Mann. „Ja, weiß man nicht“, sagt der Mann. „Nee, ne?“, sagt die Frau, „weiß man ja auch nicht, ob Mitte vom Zug oder Mitte vom Waggon.“
Faszinierend, dass sie sich darüber Gedanken macht, obwohl man sich sowieso keinen halben Meter wegbewegen kann.
„Fahrzeugmitte, hat er gesagt“, sagt der Mann. „Ah“, sagt die Frau, „na und wo ist das? Weiß man nicht. Siehste.“ „Wir sind ganz vorne“, sagt die Frau, die zum Kinderwagen gehört. „Ach“, sagt die andere Frau, „danke.“ „Die Frage ist“, sagt die Frau vom Kinderwagen, „ob wir überhaupt wollen, dass noch mehr Leute einsteigen.“ „Stimmt“, sagt die andere Frau und nickt, „guter Punkt.“
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