Berliner Szenen: Zwei Absagen, ein Tag
Es ist wie verhext, wenn man den Fahrradschlüssel verliert. Was will uns das Unbewusste damit bloß sagen?
A ls ich nach Hause komme, das Fahrrad in den Hinterhof gestellt und abgeschlossen, finden sich zwei Absagen im Briefkasten. Zwei Absagen an einem Tag. Die eine werfe ich gleich in den Papierkorb, der für Werbeflugblätter, Pizzabestellkarten und Gratiszeitungen unter den Briefkästen steht. Die andere nehme ich mit hoch, wo ich sie ins Altpapier werfe.
Sprachpakete, die nicht ankommen. Ein Stipendium, ein Beitrag für eine Literaturzeitschrift: zwei Absagen an einem Tag. Ich bin so was von am Rand des Literaturbetriebs, ich bin im Grunde so gut wie draußen. Vielleicht ein Fall von Schicksal eines Handwerkersohns, überlege ich, eines Zugezogenen, eines Studienabbrechers. Andererseits, mit Peter Rühmkorf: „Wir sind (…) nur Arbeiter und können uns unsere Fabrik nicht aussuchen.“
Ich versuche, mich zu entspannen. Das abendliche Bier in der Lieblingskneipe fällt leider aus, aber nicht der Fernseher, den ich erst kürzlich von der Straße geholt hatte. Am Kottbusser Damm. Er hat Hotelzimmerfernsehergröße. Fürs Erste reicht es. In der Nacht erwache ich aus einem Traum. Der Traum hat die Handlung eines Adventuregames aus den achtziger Jahren. Es geht darum, mit Freunden durch zusammenhängende Bildwelten zu streifen und dabei ein Rätsel zu lösen. Es geht darum, meine Analytikerin zu finden, die in diesem Traum von meiner Exfreundin C. gespielt wird.
Die ist zwar in echt 30 Jahre jünger, aber das Casting leuchtet mir augenblicklich ein: dieselbe Haarfarbe, dieselbe Spröde, derselbe Protestantismus, dieselbe halbstarke Erotik. Sie tragen sogar ähnliche Brillen. Trotzdem weiß ich nicht, um welches Rätsel es sich handelt. Und was die Lösung ist. Morgens stelle ich fest, dass ich meinen Fahrradschlüssel verloren habe. Wie kann das sein? Keine Ahnung. Ich finde ihn nicht, ich kann mir sein Verschwinden nicht erklären.
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