Berliner Senat will es nicht werbefrei: Äußerst plakative Abfuhr
Der Senat lehnt das Volksbegehren Berlin Werbefrei rigoros ab.
D er Film ist im Internet zu finden, er zeigt eine Tramfahrt durch Ostberlin Anfang 1990: Die ZuschauerInnen tuckern, im Wesentlichen entlang der heutigen Linie M4, durch eine wintergraue Stadt mit wenigen Autos, wenigen Passanten und – abgesehen von ein paar Litfaßsäulen – so gut wie keiner Werbung im öffentlichen Raum. Es ist ein ruhiges, unaufgeregtes Berlin, das wir hier vermittelt bekommen. Und wäre es nicht schön, wenn die Entwicklung wieder dahin ginge?
Angeblich arbeitet der rot-rot-grüne Senat genau daran – mit DDR hat das nichts zu tun. Es soll zukünftig weniger Autos geben in der Stadt und mehr öffentlichen Nahverkehr. Allerdings merkt man davon bisher nichts. Und was die inzwischen allgegenwärtige Reklame angeht, hat sich der Senat diese Woche nicht zu einem radikalen Kurswechsel durchringen können: Der Entwurf des Werbefreiheitsgesetzes, für das die Initiative Berlin Werbefrei in einer ersten Phase des Volksbegehrens 32.000 gültige Unterschriften gesammelt hatte, wurde vom Senat am Dienstag abgelehnt. Begründung: Es sei materiell-rechtlich unzulässig. Sprich, es greift zu sehr in Eigentumsverhältnisse ein.
Der Entwurf sieht das grundsätzliche Verbot von Werbung im öffentlichen Raum vor, mit wenigen genau definierten Ausnahmen. Die Stadt sähe also anders aus, wenn das Gesetz umgesetzt werden müsste: Schluss mit Plakatwänden, mit Riesen-LED-Displays an Straßen und Bushaltestellen, dem Displayaufsatz auf dem Springer-Hochhaus. Doch auch wenn der Senat „die kritische Diskussion über zunehmende Werbung“ begrüßt, scheut er vor dieser Frontalattacke auf den Kapitalismus zurück.
Einerseits ist das verständlich: Schließlich muss er wegen des Mietendeckels diese nicht ganz einfache Debatte bereits führen. Und wahrscheinlich hat man sich gedacht, dass sich mit dem Anliegen letztlich auch nicht viel gewinnen ließe: Während die Kritik etwa an der Mietentwicklung von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird, ist der Protest gegen Werbung nur Anliegen kleiner Gruppen; zu sehr hat man sich an die Allgegenwärtigkeit von Reklame gewöhnt.
Andererseits fing auch die Antigentrifizierungsbewegung mal klein an. Und die harsche Zurückweisung ist ein Schlag ins Gesicht der Aktivisten: Nicht mal nachbessern darf die Initiative ihren Gesetzentwurf, zu weitreichend müsste er nach Ansicht des Senats verändert werden. Mal sehen, ob das Verfassungsgericht, das nun die letzte Entscheidung über die Zulässigkeit des Volksbegehrens hat, das genauso sieht.
Drei Jahre sind es an diesem Sonntag, dass Rot-Rot-Grün die Stadt regiert. In dieser Zeit müsste die Koalition gelernt haben, dass sie am Ende ihrer Klientel ein paar politische Veränderungen vorzeigen muss, die über das Pinseln von grünen statt roten Radwegen hinausgehen. Ein veränderter Umgang mit Werbung, ausgehandelt mit der Initiative, wäre zumindest ein sichtbarer Erfolg gewesen. Und weniger Reklame ist auch eine Art, sich die Stadt zurückzuholen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett