Berliner Luft: Zarter Moment
die Berlin-Parlaments-Kolumne
von Ulrich Schulte
Ob ich nicht mal Lust hätte, die Parlamentskolumne zu schreiben, fragte die sehr geschätzte Kollegin, bevor sie auf eine Bildungsreise ging. Das klingt harmlos, aber der Job als Ersatzparlamentskolumnenschreiber ist ein Schleudersitz. Ich mache mir da nichts vor. Hintersinnig, humorvoll, aber bitte analytisch und mit Inhalten, wenn das nicht klappt, bist du raus. Da funktioniert die taz auch nicht anders als Springer.
Martin Schulz hat vor ein paar Tagen im Willy-Brandt-Haus das Rentenkonzept der SPD vorgestellt. Schulz trägt dunkle Augenringe und eine dieser dezenten Krawatten in Hellblau, die sie ihm verordnet haben, als er Kanzlerkandidat wurde.
Er wirkt müde und etwas abwesend, als frage er sich, warum er diesen ganzen Scheiß überhaupt macht. Um den Zustand „Kanzlerkandidat der SPD“ monatelang auszuhalten, brauchst du die Gelassenheit eines Brauereipferds auf Valium. Eben noch drucken sie deinen Kopf auf ein T-Shirt und schreiben darunter: „Martin Schulz schläft nicht. Er wartet.“ Dann regiert plötzlich ein netter Christdemokrat in Düsseldorf, ein Mitarbeiter druckt die falsche Überschrift über das SPD-Programm und alle haben schon immer gewusst, dass sowieso Merkel gewinnt.
Im Willy-Brandt-Haus klatschen jetzt junge Menschen, die sich hinter die Kameras der Fernsehleute gestellt haben. Sie klatschen, als Schulz auftritt, sie klatschen wieder, als er endet. Ein dünner Applaus ist das, der im Foyer über der Willy-Brandt-Statue schnell verhallt, aber dennoch begründet er einen besonderen, ja: zarten Moment. Offenbar haben sich ein paar SPD-Mitarbeiter in die Pressekonferenz geschlichen, um Schulz demonstrativ zu unterstützen. Hauptstadtjournalisten rammen sich ja lieber einen Kugelschreiber in die Hand, als einem Politiker zu applaudieren.
Wie menschlich und nahbar wirkte da plötzlich die SPD. Kennt das nicht jeder? Wenn die Welt schlecht ist, muss man sich wenigstens selbst gut finden (und abends auf dem Sofa die Packung Toffifee allein leeressen). Als Ersatzparlamentskolumnenschreiber würde man sich doch auch über ein paar von der taz bezahlte Leserbriefschreiber freuen, die verlässlich Lob und Aufmunterung liefern.
Der SPD-Sprecher betont später, die Claqueure seien keine Mitarbeiter gewesen, sondern eine zufällig anwesende Besuchergruppe. Und schon erledigt sich der Gedanke, die ewig zweifelnde SPD sei vielleicht doch im Grunde eine liebevolle Partei. Ihr Rentenkonzept aber, das zu den Inhalten, ist gar nicht so schlecht.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen