piwik no script img

Berliner Label für UnerschrockeneRiskante Musik

Mit Corvo Records betreibt Wendelin Büchler ein echtes Liebhaberlabel für Experimentelles – aus dem eigenen Wohnzimmer heraus.

Corvo-Records-Macher Wendelin Büchler mal mit Buch statt Platte in der Hand Foto: Mara v. Kummer

Der ankommende Gast von der Presse wird auffallend herzlich begrüßt, Wendelin Büchler bittet in seine Wohnung, die gleichzeitig das Office seines Labels Corvo ist, dem Anlass für den Besuch, und stellt ein paar Gläser mit Wasser bereit. Praktischerweise gesellt sich eine der wichtigsten Künstlerinnen seiner kleinen Plattenfirma zum Gespräch gleich mit an den Wohnzimmertisch: seine Frau Alessandra Eramo.

Das Paar wohnt mit seiner 17 Monate alten Tochter im beschaulichen Friedenau, dort, wo man in Berlin nicht unbedingt den Sitz eines Labels für experimentelle Musik vermuten würde, außerhalb sämtlicher Hipsterzonen der Stadt. Man merkt schnell, dass man sich hier in einem Künstlerhaushalt befindet. Bücher, Kunst an der Wand, ein Porträt von Klaus Kinski auf der Kommode und natürlich Schallplatten deuten darauf hin. Im Obergeschoss der Wohnung hat Alessandra Eramo außerdem ihr Musikstudio eingerichtet.

Der 40-jährige Büchler ist im schwäbischen Ravensburg aufgewachsen, an der Kunstakademie in Stuttgart hat er die fünf Jahre jüngere Alessandra Eramo aus dem italienischen Tarent in Apulien kennengelernt. In Stuttgart und Ludwigsburg veranstaltete er Konzerte von Musikern aus der Avantgardeszene, etwa von Fred Frith. Nach dem Umzug nach Berlin vor acht Jahren hat er damit für den Veranstaltungsort Ausland in Prenzlauer Berg weitergemacht, sich dann aber schon bald vor allem um sein Label gekümmert, auf dem vor sieben Jahren die erste Veröffentlichung erschienen ist.

Corvo ist ein echtes Liebhaberlabel, bei dem so viel Wert wie auf die Musik auf die Verpackung gelegt wird. „Die Idee ist, dem Visuellen denselben Stellenwert zu geben wie der Musik“, so Büchler, jede Veröffentlichung auf seinem Label solle „mehr sein als bloß eine Platte“.

Natürlich nur Vinyl

Alles erscheint ausschließlich auf Vinyl, in handnummerierten Auflagen von 300 Stück. Die Cover werden entweder von den Musikern selbst gestaltet oder von Büchler, der diese dann mit einer seiner Zeichnungen schmückt, oder, wie er das nennt, „interpretiert“. Im Arbeitszimmer breitet der Labelbetreiber ein kleines Panorama der bisher bei ihm erschienenen Veröffentlichungen aus, ein gutes Dutzend Platten sind das, und man erkennt tatsächlich recht schnell, wie bewusst hier alles andere als Massenware produziert wird.

Record Store Day

Wie hübsch Schallplatten gestaltet sein können, nicht nur die von Corvo Records, sieht man am besten dort, wo es die auch in größerer Zahl zu begucken gibt: im Schallplattenladen. Gute Gelegenheit hat man dazu wieder mit Konzerten und Sonderaktionen am natürlich verkaufsoffenen Feiertag der unabhängigen Plattenläden, dem Record Store Day, dieses Jahr in seiner zehnten Runde am 22. April. Information: www.recordstoredaygermany.de

Manche der Schallplatten werden in spezielle Plastikhüllen gewandet, andere präsentieren sich in farbigem Vinyl, in Schweinchenrosa etwa oder als schwarz-weiß gemusterte Picture Discs. Die Platten wirken wie Kunsteditionen mit musikalischem Inhalt, und die jeweilige Optik soll am Ende sogar möglichst kohärent sein mit den dazugehörigen Klängen. Auf der Rückseite ihrer Single „Roars Bangs Booms“ schreibt Alessandra Eramo dann auch explizit, dass die von ihr angefertigte Zeichnung, die das Plattencover ziert, ihre grafische Übersetzung der Worte des italienischen Futuristen Luigi Russolo seien, die sie mit ihrer Stimme und Elektronik neu interpretiert hat.

Einen klar definierten Corvo-Sound gibt es nicht. Der Noise des österreichischen Klangkünstlers Dieb 13, die Stimm­akrobatik von Alessandra Eramo und die avantgardistischen Piano-Neufassungen österreichischer Volksweisen von Ingrid Schmoliner sind jeweils ziemlich unterschiedliche Hörerlebnisse.

Klar ist jedoch, dass es auf Corvo keinen Pop und keinen Rock gibt, sondern ausschließlich etwas aus der Nische der experimentellen Klänge. Drones, konzeptuelle und mikrotonale Musik, Field Recordings, Klangpoesie, dafür steht Corvo, für etwas, das Alessandra Eramo im weitesten Sinne als „riskante Musik“ verstanden wissen will.

Zum Label noch Sublabel

Ein besonderer Dreh bei Büchlers Mini-Plattenfirma ist, dass ihr auch noch ein Sublabel angeschlossen ist, bei dem es musikalisch doch um etwas anderes geht als bei Corvo. Global Pop First Wave hat sich spezialisiert auf Kompilationen von Psychedelic aus den Sechzigern und Siebzigern aus aller Welt, vor allem aber aus der Türkei. Das Label wird betrieben von Holger Lund, einem Designprofessor, der an der Ravensburger Hochschule unterrichtet, an dem auch Büchler gelegentlich Seminare gibt, und der einen Zweitwohnsitz in Wedding hat.

Über die Begeisterung an der Optik und Gestaltung von Schallplatten habe man zueinandergefunden, so Büchler. Und tatsächlich lässt sich etwa an der aktuellen Veröffentlichung von Global Pop First Wave, dem dritten Teil einer Reihe mit dem Namen „Sazbeat“, erkennen, dass es auch Holger Lund daran gelegen ist, akribisch designte Schallplatten zu erstellen. Das Cover ziert eine Collage mit Rockband-Instrumenten und türkischen Gitarren-Dudes mit Schnauzern, die ganz gut den wilden Clash von amerikanischem Rock'n'Roll und Orient-Folk illustriert, der auf dem Sampler zu hören ist.

Die Platten von Global Pop First Wave gehen auch schneller weg als die Veröffentlichungen von Corvo, wie Wendelin Büchler zugeben muss. Klar, exotische Retro-Psychedelic ist eben gerade noch ziemlich angesagt. Aber vielleicht, so hofft Büchler, gibt es ja ein paar Interessierte, die zuerst die alte türkische Rockmusik von Global Pop First Wave hören und dann wissen wollen, was das eigentlich für eine Art von Musik ist, die es beim dazugehörigen Mutterlabel gibt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!