Berliner Internetsendung "TV Noir": Knaller aus dem Wohnzimmer
Die Berliner Internetsendung "TV Noir" kombiniert Konzert und Talkshow. Im Mai wechselt das Programm zum Kanal ZDFkultur.
"Die Leute im Fernsehen / würden es gern sehen / wenn wir zu den Sternen gehen" - Tex Drieschner lächelt, während er die Zeilen singt. Nicht zuletzt weil das Echo des Publikums im Berliner Heimathafen Neukölln ganz flüssig kommt. Kaum einer der 400 Besucher braucht einen der auf den Stühlen platzierten Zettel, auf denen der Text vorsorglich abgedruckt ist.
An dem wunderschönen Deckengewölbe des weit über 100 Jahre alten Saalbaus auf der Karl-Marx-Straße 141 hängt eine still stehende Discokugel. Der schwere, rote Vorhang öffnet sich, eine Sitzecke mit Stehlampe kommt zum Vorschein, daneben ist ein Akustikset aufgebaut. In den folgenden zwei Stunden werden Deniz Jaspersen von der Hamburger Band Herrenmagazin und Tim Neuhaus ebenso herzlich wie unaufgeregt erzählen, diskutieren, improvisieren und vor allem singen. Es ist Sonntag im "Wohnzimmer der Songwriter". So nennt Drieschner seine Sendung "TV Noir" gern selbst.
Das Konzept basiert auf der simplen, aber äußerst effektiven Kombination von minimalistischem Livekonzert und ausführlichen Talkelementen in fließendem Wechsel. Allzu bierernst geht es aber nicht zu. Programmpunkte wie "Schund und Bühne" - die Musiker müssen mit wahllos aus dem Publikum zugerufenen Begriffen ("Atomkraft") eine theatralische Liebesszene aufpeppen - sorgen zusätzlich für absurde Glanzlichter.
Doch wenn Deniz Jaspersen in der Folge dann unter Bezugnahme auf die eigenen Songs bilanziert, dass man die Liebe seines Lebens meist nicht trifft, wird es schlagartig ruhig. Man kommt gar nicht erst auf die Idee, seine Worte für pathetisch verbrämt zu halten. Die Vorzüge von "TV Noir" liegen neben dem exklusiven Akustikerlebnis darin, dass den Künstlern genug Zeit für die persönliche Innen- und Außensicht bleibt. Sie dürfen und wollen eben auch erzählen. Ein Effekt, der eine bemerkenswerte Nähe zum Publikum herstellt.
"15 Knaller"
Mittlerweile stand schon fast die halbe deutschsprachige Indieszene aktiv Pate für die Kammerkonzertreihe, die jeden ersten Sonntag im Monat in Schwarz-Weiß aufgezeichnet wird. Am vergangenen Freitag nun ist die Live-Compilation "15 Knaller" erschienen. Auf der Platte ist mit Wir sind Helden, Bosse, Gisbert zu Knyphausen und Philipp Poisel allerhand Prominenz vertreten. Doch die Bühne von "TV Noir" dient nicht nur den etablierten Gesichtern. Auf der Platte finden sich mit Boy oder Alin Coen auch zahlreiche vielversprechende Talente.
Innerhalb von drei Jahren hat Drieschner mit seinem achtköpfigen Team aus einem "Abend bei Freunden mit der Gitarre" ein multimedial erfolgreiches Format gebastelt. Gerade im Internet hat sich "TV Noir" als eine Art alternative Plattform kontinuierlich entwickelt. Fast 11.000 Facebook-Freunde zählt die Webpräsenz der Sendung aktuell - Tendenz steigend. Die Aufrufe beim Videoportal Youtube sind für den Indiebereich noch bemerkenswerter - allein bei Alin Coen gehen die Klicks in die Hunderttausende.
Der studierte Mathematiker Drieschner hat sein Modell rund um die Akustikhappen im Netz nahtlos in das für die Musikkultur immens relevante Social-Media-Netz um Youtube, Twitter und Facebook eingebaut, ohne an Profil zu verlieren. 2009 brachte das "TV Noir" eine Nominierung für den Grimme Online Award ein.
Bleibt noch die Geschichte mit dem Fernsehen: Ursprünglich lief das Format auf dem Berliner Bürgerkanal Alex und war damit ein reines Nischenstück; im kommenden Monat wird es fester Bestanteil im Programm des am 7. Mai neu auf Sendung gehenden Kanals ZDFkultur. Senderchef Daniel Fiedler hält "TV Noir" für ein "unglaublich spannendes Experiment". Es scheint so, als seien die von Drieschner besungenen Sterne ein bisschen näher gerückt.
"TV Noir - Fünfzehn Knaller" (BMG)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren