Berliner Geschichte neu erzählen: „Ich benutze Geschichte wie einen Spiegel“

In Holland hat er das Amsterdam Museum aus dem Dornröschenschlaf geholt, nun soll Paul Spies dasselbe mit dem Märkischen Museum machen.

Paul Spies ist seit zwei Jahren Direktor der Stiftung Stadtmuseum Foto: Wolfgang Borrs

taz: Herr Spies, wie oft am Tag fahren Sie an der Baustelle des Humboldt Forums vorbei?

Paul Spies: Mindestens zweimal. Ich wohne im Prenzlauer Berg und muss über die Nikolaikirche in mein Büro. Und gleich daneben liegt unsere Fläche.

Unsere Fläche nennen Sie das?

(lacht) Unsere Fläche im Humboldt Forum, ich sehe die jeden Tag. Und wenn ich in der Stadt eine Verabredung habe, dann radle ich auch wieder an unserer Fläche vorbei.

Wie groß ist Ihre Vorfreude, da 4.000 Quadratmeter mit der Ausstellung „Welt.Stadt.Berlin“ bespielen zu dürfen?

Im Märkischen Museum hatte ich das Gefühl, als ob die Zeit stillstünde. Entstauben ohne Geld, das geht nicht

Die Vorfreude ist riesig. Warum bin ich denn hier? Es ist die Kombination von Stadtmuseum und Humboldt Forum. Dort kann ich die internationale Geschichte einer Stadt wie Berlin erzählen. So etwas habe ich mir in Amsterdam immer gewünscht.

Dort waren Sie Direktor des Amsterdam Museum.

Und als solcher bewegt man sich erst mal ziemlich lokal. Man hat nicht so viel Raum, um zu erzählen, wie vielschichtig die Geschichte eigentlich ist. Im Humboldt Forum habe ich die Möglichkeit, die Verbindungen Berlins zur Welt klarzumachen. Eine Stadt besteht ja daraus, dass sie gewachsen ist durch Migration, erst aus der Nähe, dann von immer weiter weg. Diese Internationalität wird oft vernachlässigt. Was macht man in einem Stadtmuseum als erstes? Man erzählt die lokale Geschichte.

Was wird in der Ausstellung „Welt.Stadt.Berlin“ im Einzelnen zu sehen sein?

Wir fangen an mit Humboldt. Warum das Humboldt Forum? Warum die Humboldts? Was hat das mit Berlin zu tun? Im Grunde sind wir das Bindeglied zwischen dem realen Berlin vor dem Gebäude und der Welt, die oben im Humboldt Forum ausgestellt wird. Wir erzählen von Berlin, von Deutschland, von Europa, von der Welt. Wir sind der perfekte Einstieg, um zu verstehen, warum in der Mitte Berlins im ehemaligen Schloss ein ethnologisches Museum errichtet wird.

In Berlin wird eine Menge diskutiert. Manche fordern gar, Sie sollen auf die Ausstellung im Humboldt Forum verzichten. War das in Amsterdam auch so aufgeregt?

Nein. Absolut nicht.

Da konnten Sie machen, was Sie wollten?

Das auch nicht. Aber in Holland sind Kultur und Politik getrennt. Das hat einen riesigen Vorteil, weil man eine große Autonomie hat. Und es hat den großen Nachteil, dass die Gelder weiter weg sind.

Was hat Sie bewogen, von einer Museumskultur in die andere zu wechseln?

Als erstes natürlich das Humboldt Forum …

Ohne Humboldt Forum wären Sie nicht gekommen?

Ich hatte in Amsterdam einen wunderbaren Auftrag. Ich sollte eine neue Umgebung für das Amsterdam Museum schaffen, weil es, wie das Märkische Museum, in der Innenstadt etwas versteckt ist. Dann rief mich Tim Renner an und sagte: Herr Spies, wir suchen einen neuen Direktor für die Stiftung Stadtmuseum. Können Sie sich das vorstellen?

Was haben Sie gesagt?

(lacht) Nein! Dann sagte er: Zusätzlich kommt noch was dazu. Das Humboldt Forum. Ich sagte: Erzählen Sie weiter. Also haben wir uns zu einem ersten Gespräch getroffen.

Bei dem er Sie sofort überzeugen konnte?

Wir haben über die Zukunft der Stadtmuseen gesprochen. Ein Kunstmuseum ist ganz leicht. Ein Stadtmuseum dagegen ist ganz schwierig. Dann merkte ich, dass es ein richtiges Bewerbungsgespräch war. Ich sagte meiner Frau hinterher: Was machen wir, wenn die mich wollen?

Sie wollten dann. Wie gut kannten Sie Berlin?

Ich kannte es gut genug, um mich zu orientieren. Als ich dann für dieses Gespräch wieder nach Berlin kam, merkte ich erst, wie viel sich geändert hat. Dasselbe hatte ich drei Jahre zuvor auch festgestellt und die drei Jahre davor ebenfalls.

Wird Berlin irgendwann eine ganz normale Metropole – und damit auch langweilig?

Hoffentlich nicht. Doch man muss schon ein wenig aufpassen. Aber die Stadt hat noch die Chance, eine Ausnahme zu bleiben und nicht gleich, wie Amsterdam, Prag oder Paris, eine Touristenstadt zu werden. Eine Stadt, in der Arbeit und Wohnen gemischt sind, wo es noch unfertig ist. Damit noch etwas bleibt für die Fantasie.

In Amsterdam haben Sie aus dem Amsterdams Historisch Museum das Amsterdam Museum gemacht, es also in die Gegenwart geholt und zukunftstauglich gemacht. Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal im Märkischen Museum standen?

Ich war total überrascht. Ich hatte das Gefühl, als ob die Zeit stillstünde. Als ob es gar keine Gedanken darüber gab, wie man die Geschichte Berlins museologisch ausstellt. Ich war auch überrascht, dass es anscheinend so wenig Geld gab, um das alles zu verbessern. Einer der Gründe, weswegen ich gekommen bin, hat auch mit der Zusage der Mittel zur Sanierung des Märkischen Museums und des benachbarten Marinehauses zu tun. Entstauben ohne Geld, das geht nicht.

Man hat Ihnen gleich zu Beginn 65 Millionen Euro zugesichert.

Mündlich ja, jetzt ist es auch unterschrieben.

Wie haben Sie sich das erklärt, dass da jahrelang Stillstand herrschte?

Der Stadt war die Ausstellung ihrer Geschichte nicht wichtig genug. Mit der Folge, dass andere in diese Lücke gestoßen sind, mit dem DDR-Museum oder der Story of Berlin. Mit der Bunkergeschichte. Immer mehr Themenmuseen, die das Märkische Museum im Grunde überflüssig machten.

Im Mai wurde mit „1937. Im Schatten von morgen“ die erste Ausstellung im Märkischen Museum eröffnet, die unter Ihrer Regie entstanden ist. Es ist eine Schau über den Alltag. Warum dieser Zugang?

Alles, was wir tun, bevor wir 2020 für die Sanierung schließen, sind Proben. Wir versuchen uns Zeit zu nehmen, um Formate zu entwickeln. Das ist nicht nur Paul Spies, das sind eine Reihe von Mitarbeitern, die die Chance ergreifen, anders zu arbeiten als gewohnt. Ich bin hier nicht der Chef, der bestimmt, wo es langgeht …

Sie sind der Coach, haben Sie einmal gesagt.

… Ich bin der Coach, genau. Die Ausstellung „1937“ ist von Gernot Schaulinski gemacht worden. Natürlich haben wir am Anfang ein langes Gespräch gehabt. Daraus resultierte die Überzeugung, dass wir unsere Rolle in einem Umfeld, wo es schon die Topographie des Terrors und das Holocaust-Mahnmal gibt, neu entdecken müssen. Warum also nicht Alltagskultur intelligent ausstellen und versuchen, mit unserer eigenen Sammlung zu proben, zu schauen, ob wir mit kleinen Geschichten große Geschichte illustrieren können. Ich glaube, es ist gelungen. Darauf können wir aufbauen.

Mit dieser Ausstellung haben Sie thematisch überrascht, mit der Ausstellung über „125 Jahre Hauptstadtfußball“ im Ephraim-Palais haben Sie auch partizipatorisch neue Wege beschritten. Weshalb?

Wenn das Stadtmuseum nicht nur für einen Teil, sondern für alle da sein soll, muss man auch Produkte bringen, die mit diesen Zielgruppen abgestimmt sind. Ich kann nicht erwarten, dass alle zu „1937“ kommen. Im Ephraim-Palais haben wir uns vorgenommen, stärker Berliner Lebensgefühl zu bringen. Auch Alltag, aber nicht so sehr politisch. Fußball ist da natürlich wunderbar.

Wer über Fußball spricht, spricht nicht selten über Bilder von Nationen. Gerade Holländer und Deutsche sind da oft Gegner gewesen.

Ich erinnere mich noch gut an das WM-Finale Holland gegen Deutschland 1974.

Deutschland hat 2:1 gewonnen.

Das war schlimm, ich war damals 14 Jahre alt. Heute ist das kein Thema mehr.

Weil Holland keinen guten Fußball mehr spielt?

Dafür sind die Deutschen viel lockerer geworden.

Was gibt es sonst noch im Ephraim-Palais zu sehen?

Wir werden auch eine Ausstellung über die Berliner Clubkultur machen. Außerdem zeigen wir dort demnächst eine Ausstellung mit dem Titel „Die Schönheit der Stadt“.

Oha.

Die Schönheit der Stadt ist nicht immer schön. Aber die Bilder, die wir dort zeigen, geben einem das Gefühl, dass Schönheit auch ironisch gemeint sein kann, weil in Berlin viel Hässlichkeit ist. Aber das Gefühl von Schönheit ist trotzdem da. Auch bei dieser Hässlichkeit. Ich habe mich von Anfang an in diese Berliner Hässlichkeit verliebt. Und nach der Westberlin-Ausstellung wird es natürlich eine Ostberlin-Ausstellung geben. Auch da wieder ohne die große Politik, die spielt eher im Hintergrund. Ich will wissen, was die Politik mit den Menschen macht. Ich benutze die Geschichte nicht, um Geschichte zu erzählen, sondern wie einen Spiegel, in den die Menschen heute schauen können.

So wie am Ende der „1937“-Ausstellung.

Auch da schauen die Leute in den Spiegel und fragen sich: Ist heute vielleicht schon wieder 1937? Nicht in Berlin vielleicht, aber sind wir uns dessen bewusst, dass es wieder totalitäre Regime gibt? Das ist damals auch nicht von heute auf morgen gekommen, das ist auch in uns hineingekrochen. Und als es so weit war, war es zu spät, um zu reagieren.

1937“ war der erste Probelauf im Märkischen Museum. Wie viele Probeläufe wird es bis zur Schließung noch geben?

Es wird noch mehrere Ausstellungen geben. Eine hat das Thema Neukölln und die türkische Gesellschaft. Die Ausstellung wird mit den Türken gemacht. Wir blicken zurück auf mehrere Jahrzehnte des Lebens dort. Und wir stellen die Frage, wo wir heute stehen. Wenn die Mehrheit der Berliner Türken Erdoğan wählt, dann muss man sich fragen, inwieweit wir dafür mitverantwortlich sind. 2018 wird es eine Ausstellung zum Revolutionsjahr geben, und dann geht es auch um Groß-Berlin, das 1920 gegründet wurde. Der Titel wird wahrscheinlich „Heimat“ sein.

Für viele ist die Heimat immer noch der Kiez.

Das versuchen wir zusammenzudenken. Groß-Berlin und Klein-Berlin, auch das wird da zu finden sein. Schließlich wird nächstes Jahr im Juni im Obergeschoss eine neue Berlin-Ausstellung zu sehen sein. Für wenig Geld machen wir viel. Es wird einen schnellen Durchlauf durch die Chronologie geben. Und wir setzen ein paar Themen, die mit unserer Sammlung zu tun haben.

Die Sammlung, Ihr großer Schatz.

Das wissen ja viele nicht: Wir haben eine Riesensammlung mit 4,5 Millionen Objekten. Ich kenne kein Museum der Welt, das so viel hat. Das steht alles in einem Riesenlagerhaus in Spandau, und wir müssen uns Gedanken machen, was mit dieser Sammlung werden soll. Natürlich hat sie Relevanz. Aber wenn sie im Dunkeln steht, dann hat sie für die Öffentlichkeit wenig Relevanz. Besser ist es also, wir aktivieren das. Wir müssen jetzt schon Formate proben, auf die wir nach der Wiedereröffnung zurückgreifen können.

Die neue Berlin-Ausstellung ist auch ein Testlauf für die Dauerausstellung zur Geschichte der Stadt, die es nach der Wiedereröffnung 2023 geben wird. Wird diese Ausstellung dann noch im Märkischen Museum stattfinden? Oder wird es dann schon Berlin Museum heißen?

Bei meiner Bewerbung habe ich gesagt, dass der Name problematisch sei. Niemand versteht, dass sich hinter dem Märkischen Museum ein Stadtmuseum verbirgt, das die Geschichte Berlins ausstellt. Da muss was passieren, habe ich gesagt.

Und nun?

Nun bin ich mitten drin in der Arbeit, und ich bin unentschlossen. Jetzt nehmen wir uns Zeit. Der Moment, in dem wir uns entscheiden müssen, ist 2022, also dem Jahr vor der Wiedereröffnung. Dann müssen wir zur Tourismusbörse und das alles bekannt machen. Das heißt, wir haben jetzt fünf Jahre, um uns zu entscheiden. Vielleicht wird ja in Zukunft in Zusammenhang mit dem Humboldt Forum und den anderen Standorten das Märkische Museum als Alleinstellungsmerkmal gesehen, als ein außergewöhnlicher Ort mit einem sympathischeren Namen als Berlin Museum.

Welche Diskussionen gab es da in Amsterdam?

Ich hab das Museum Amsterdam Museum genannt, weil ich inklusiv sein wollte und nicht exklusiv. Amsterdam wird von sehr viel mehr Leuten umarmt als die Amsterdamer Geschichte. Mein Vorschlag war dann, aus Amsterdams Historisch Museum das Amsterdams Museum zu machen. Dann stand eine alte Dame auf und fragte, warum nicht gleich Amsterdam Museum, das muss man nicht mal mehr ins Englische übersetzen. Damit war die Entscheidung gefallen.

Eine solche alte Dame gab es bei Ihnen unter den Mitarbeitern offenbar nicht.

Es gibt eine große Gruppe von Mitarbeitern mit einer Ostbiografie, die Berlin Museum als einen Namen sehen, der für eine Art Kolonialismus des Westens steht. Das ist aber ihr Museum, ihre Jugend, die fänden es also ganz hart, wenn der Name geändert würde. Das kann ich verstehen.

Das kann sich in fünf Jahren schon geändert haben.

Vielleicht braucht es einen Generationswechsel, ja.

Herr Spies, wenn man die Benelux-Importe in Berlin betrachtet, hat man den Eindruck, sie seien Everybody ’s Darling, während Chris Dercon zum Buhmann geworden ist. Was machen Sie anders als er?

Die Ausgangsposition ist unterschiedlich. Die Volksbühne war ein Erfolg. Wenn da jemand neu kommt, ist es immer schwierig. Ich habe ein Museum übernommen, das am Tiefpunkt war. Bei mir verstehen alle, dass es nicht so bleiben kann.

Ihr Vertrag läuft bis 2022. Würden Sie gerne die Wiedereröffnung ein Jahr später als Direktor erleben?

Ich würde das gerne machen.

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