Berliner Festival für Medienkunst: Vertreibung aus dem Paradies
Die Transmediale in Berlin bot antiillusionistisches Theater, okkulte Filmszenen und ein brachiales Doom-Konzert.
In Sachen elektronische Musik blickt die Welt nach Berlin. Besonders während des Festivals „Club Transmediale“, wenn schon zum Podiumsgespräch am Freitagnachmittag der Veranstaltungsort Bethanien aus allen Nähten platzt. Ihr Essen bringen die Hipster in der Tupperware mit, um bloß nichts zu versäumen. Bei „The Death of Rave Pt. I“, geleitet von der US-Autorin Lisa Blanning, debattieren britische Musiker und Kulturtheoretiker über die goldene Ära des Rave zwischen 1987 und 1994.
Mit dem „Criminal Justice Act“ verabschiedete die britische Regierung 1994 ein Gesetz, das „illegale Zusammenkünfte junger Menschen zum Zwecke der Party“ untersagte. Für den Produzenten und Hyperdub-Labelchef Steve Goodman alias Kode 9 ist das der Dolchstoß ins Herz einer „dole culture“: Es ging darum, mit wenig Geld das Maximale aus den Umständen herauszuholen, allabendlich über Klassengrenzen hinweg feiern zu gehen. Das sei – mehr noch als Hedonismus – „serious fun“ gewesen.
Schlüsselindustrie Berlins
Mark Fisher, Autor des Essays „Capitalist Realism“, sprach von der Melancholie als einziger Möglichkeit, der tiefen Depression nach dem Ende der Euphorie zu begegnen. Auch im anschließenden Panel, das sich um Techno im Berlin der Wendejahre drehte, kommen die Beteiligten schnell auf die Katerstimmung zu sprechen.
Alexandra Droener, Anfang der Neunziger Bookerin in den Berliner Clubs Tresor und E-Werk, markiert den Moment, als die Stimmung kippte, mit der „Industrialisierung des Drogenhandels“: Mafia hielt Mitte der Neunziger Einzug in die Clubs.
Ulrich Gutmair, Redakteur der taz, sprach zuvor von einer „strukturellen Verunsicherung“ auf Seiten der Behörden im Umgang mit Clubs. Dies habe im Durcheinander der Nachwendezeit zu Freiräumen geführt. Keine Illusionen: Inzwischen ist das Nachtleben zur Schlüsselindustrie der Stadt geworden.
Paartherapie als Reality-TV
Vielleicht ist die radikale Entschleunigung auf der Bühne des Hebbel Theaters am Freitagabend auch deshalb so wohltuend. Bei der Konzertpremiere des britischen Duos Dean Blunt bleibt die Musik buchstäblich im Dunkeln. Das Bühnenlicht geht an und ein Paar (es ist Blunts Kollegin Inga Copeland und ein Schauspieler, während Blunt im Hintergrund vor dem Computer hockt) sitzt auf einem Sofa vor einem Couchtisch: Paartherapie als Reality-TV. „Du hast nicht mich verdient, sondern Marmorfußboden und Seidenlaken.“ Antiillusionistisches Theater nach Thornton Wilder, dazwischen Klangfetzen und Songfragmente. Geheimnisvoll, verwirrend, wunderbar!
Und hinterher vermag der afroamerikanische Hüne Eugene Robinson die unwirkliche Stimmung zu steigern. Er redet in Zungen zu brachial-humorloser Postindustrial-Musik des Produzenten Xiu Xiu. Man musste beim grandiosen Anblick des fluchenden Robinson unweigerlich an das elende Blackfacing des Literaturkritikers Denis Scheck denken.
Am Samstag schließt sich die Veranstaltung „Rave Undead“ thematisch vorzüglich an „The Death of Rave“ an. Auf dem Podium: Andreas L. Hofbauer und Martin Treml. Hofbauers Vortrag wird mit einem Ausflug in die Kunstgeschichte von Martin Treml beschlossen.
Dürer, Klee, Bosch, Géricault und Manet haben sich offenbar mit ähnlichen Gedanken wie die CTM-Kuratoren herumgeschlagen. Nur lautet das Stichwort hier nicht wie das CTM-Motto „goldenes Zeitalter“, sondern schlicht und ergreifend: Paradies. Ein großer Anlauf, der den Bezug zum Heute ein wenig verfehlt.
Nebelmaschinen auf Hochbetrieb
Später im Haus der Kulturen der Welt (HKW) landen Demdike Stare und Gatekeeper auf der Kehrseite vom Paradies. Während Erstere zu einer grandiosen düster-zähen Soundlava okkulte Filmsequenzen im Stile Jess Francos und Kenneth Angers präsentieren, gehen Gatekeeper mit ihrer Animation zum Album „Exo“ noch ein Stück weiter. Nackte Satansanbeterinnen bei Demdike Stare sind aufregend, aber einen irren Trip in Ästhetik eines alten Computerspiels, untermalt mit Trance – das hat man im HKW noch nicht gesehen.
Am Sonntagabend im Astra droht die Taubheit: Zum Abschluss der CTM spielen die kalifornischen Kuttenträger Sunn O))) entmenschten Drone-Doom. Nebelmaschinen spucken auf Hochbetrieb und eine Verstärkerwand simuliert mit Lautstärke das Game Over. Beim Verlassen des Astra-Clubs weht Schneeregen um die massierten Innereien. Der nächste CTM-Winter kommt bestimmt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance