Berliner Adventskalender: Muskauer Straße 11
Die Rock n Roll Herberge in der Muskauer Str. 11 ist eine dieser Kneipen, die mich an die ersten Ausflüge nach SO 36 erinnern.
Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man jeden Tag eine nummerierte Tür öffnen - und sich überraschen lassen.
Aus den Boxen schallen frühe Werke von Bad Religion, der Barmann trägt eine Adlergürtelschnalle an den Röhrenjeans und ein T-Shirt, auf dem "Be Strong be wrong" steht. Liebenswürdig ist er trotzdem. Am Tresen sind zwei Frauen mit weißblonden Strubbelhaaren und Nasenringen ins Gespräch vertieft, Männer mit Band-T-Shirts halten sich an ihren Bieren fest. Der Barmann bringt eine Bulette mit Senf.
Die Rock n Roll Herberge in der Muskauer Str. 11 ist eine dieser Kneipen, die mich an die ersten Ausflüge nach SO 36 erinnern. Ich war 16 und stolz darauf, mit U. eine echte Berlinerin zur Freundin zu haben. In den Schulferien erkundete ich mit ihr die Zossener, Wiener und Oranienstraße, die sich in jeder Hinsicht von den kopfsteingepflasterten Gassen von Wasserburg am Inn unterschieden. Da U. in Zehlendorf wohnte, teilte sie meine Begeisterung. Wir stolperten in Kneipen, die "Mistral" oder "Anfall" hießen, knüpften Kontakte zu merkwürdigen Gestalten, schmierten uns Farben namens "Alpine Green" in die Haare und warteten beim Döner auf die erste U-Bahn nach Charlottenburg, wo die Haushälterin schon das Mittagessen vorbereitete.
So ähnlich verhält es sich auch mit der Rock n Roll Herberge, die selbst erst ein Jahr alt ist, aber schwer einen auf wilde Kreuzberger Zeiten macht. Die Fassade ist von großen Airbrush-Bildern bedeckt, drinnen fehlt es nicht an einer Retro-Jukebox, einem Kicker und Tigerfell auf den Barhockern. Aber die Wildheit ist nur Optik: Das Essen ist mit Sorgfalt gekocht, die "Absteige für Rockstars und Hosenträger" im Obergeschoss bietet tourenden Bands freundliches Obdach. Aber auch Berlintouristen, die niemanden in Zehlendorf zum Pennen kennen. Ich wüsste gerne, ob U. die Herberge nett finden würde. Leider liegt sie mit dicken Mandeln zu Hause.
Ich sitze allein an einem Riesentisch, kaue an meiner Bulette und beobachte die Freundinnen am Nebentisch, die Witze reißen und literweise Bier kippen. T. von gegenüber ruft an. Auch sie ist krank und leidet, weil Freitagabend ist. "Mir ist langweilig", jammert sie. "Wie ist die Herberge?" Ich beschreibe ihr den Raum: freundliches gelbes Licht. Die sauber gemalerten Wände zieren dezente Bordüren aus roten Sternen in "The Clash"-Optik. Dazu Konzertposter von Social Distortion. Die Bar bietet neben sämtlichen Erzeugnissen der Rothaus-Brauerei auch spanischen Rotwein. Ein Flyer wirbt für Ökofleisch. "Na ja, auch Punks werden älter", sagt T. und bekommt einen Hustenanfall.
Ich lasse mir vom Barmann die Räume zeigen. Ein- bis Vierbettzimmer mit Wandporträts von Rock-n-Roll-Stars, Flammenbettwäsche, Hausbar oder Stockbetten für Gruppen. Das Publikum bestehe zur Hälfte aus Bands, die keine Lust auf enge Tourbusse hätten. Und zur anderen Hälfte aus Touris, die das authentische Kiezgefühl schätzten. Der Barmann entschuldigt sich. Er müsse Wäsche waschen, man erwarte noch einen Schwung Gäste, die alle sieben Zimmer belegen. Ich stelle mir vor, wie der kleine Koch unterdessen einen großen Topf veganes Chili kocht. Die Zehlendorfer Haushälterin damals hatte nicht so schöne Tätowierungen am Hals. Und auch wenig Verständnis für gerötete Augen und unkonventionelle Tagesrhythmen. Ein großbürgerliches Elternhaus ist eben keine Rock-n-Roll-Kneipe.
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