■ Berlin spinnt: Als die Bilder fahren lernten
Die Fahrgäste auf dem U-Bahnsteig sind irritiert. Was wollen die Leute alle hier? Kino- Weltpremiere in der U-Bahn? 600 Ehrengäste haben sich in Schale geworfen. Viele sehen aus, als führen sie seit Jahren das erste Mal wieder U-Bahn. Und wo sind sie? Alle recken die Hälse, alle warten auf die Stars: die Chaplin-Familie. Michael, der Sohn, und die beiden Enkelinnen des legendären Filmemachers sollen eigens angereist sein.
Und dann geht es auch schon los. Einsteigen in den Sonderzug zur Weltsensation. Die Bahn fährt an, die Gespräche verstummen. „Rechte oder linke Seite?“ Da weiß wohl jemand überhaupt nicht Bescheid. Dann ein erstes Flackern. Weißes Licht hinter den Scheiben. Der Film beginnt, die Tunnelwand dient als Kinoleinwand: Gezeichnete Ostereier hüpfen auf und ab. Bilder und Bahnen laufen vollkommen synchron, lautete das Versprechen. Fast: Die Bilder sind leider schneller als der Zug. Wie beim Tennisgucken fliegen die Köpfe hektisch hin und her. Wo ist es denn nun, das verdammte Kinobild?
Es wird schon wieder hell, satte 30 Sekunden sind verstrichen, die nächste Station. Das war's. Die Weltpremiere – eine U-Bahn- Fahrt für die Gäste, ein Meilenstein für die Menschheit. Komisch, der Applaus bleibt aus.
Das Happening ist noch nicht zu Ende: Eröffnungsgala „an einem ungewöhnlichen, geheimen Ort“, stand auf der Einladung. Im Waggon wird gerätselt: Flugplatz, Zirkuszelt, Führerbunker? Die Spannung steigt, die Temperatur auch. Die ersten Hemdknöpfe werden geöffnet, hie und da welkt die Bügelstärke im Kragen.
Surprise, Surprise: blaue Kacheln, Mülleimer, Telefonzellen und stickige U-Bahn-Luft. Die Überraschung ist geglückt. Im Eingang der Endstation stehen Bierbänke: Ein Buffet leuchtet verführerisch. Doch wo ist der kleine Mensch mit Melone, Knopfaugen und Bärtchen? Ach nein: Es ist ja bloß der Sohn, nicht mal Geraldine, die Grande Dame, ist gekommen. Aber immerhin ein Chaplin- Imitator! Er sieht nach Zirkus Krone aus. Endlich: Michael, der Filius, gibt sein Urteil zur Weltsensation ab: „Short, but impressive.“ Ein echter Kenner der Materie!
Die gepunkteten Ostereier hüpfen derweil tapfer weiter an den Wänden des U-Bahn-Tunnels. Stundenlang. Wie praktisch: Höchstens drei-, viermal hin- und herfahren, und schon erkennt man eine Handlung. Die Eier hüpfen, bis eine Aubergine Bockspringen mit ihnen veranstaltet. Intellektueller Anspruch in der U-Bahn. Schließlich hat der Film schon Preise gewonnen. Welch Erlebnis: Die Scheiben reflektieren, der Film läuft zu langsam oder zu schnell, und dunkel ist der Kinosaal U-Bahn auch nicht.
Sonnabend nachmittag kommt für alle die Belohnung, die die Strecke mehrmals nutzen mußten – ein echter Chaplin: The Pawnshop (Das Pfandleihhaus). Das Bild flimmert unregelmäßig. Charlie hantiert mit einer Klappleiter vor einem Schaufenster. Ein bulliger Polizist kommt dazu und sorgt für Ordnung, Charlie verpaßt ihm eins mit der Leiter. Das Rattern der Projektoren und Blitzen der Bilder paßt zu Chaplin, dem Filmpionier. Aber zur Hightech-Weltsensationspremiere? Laufen können die Bilder schon, fahren noch nicht. Ocke Bandixen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen