piwik no script img

Berlin-Buch-BoomRezepte mit passendem Beigeschmack

■ Denn sie wußten nicht, was sie getan haben sollten: Rosemarie Köhlers Notkochbuch gibt Aufschluß über das Hungerleid der Berliner Bevölkerung während der Blockadezeit

Vor 50 Jahren wurde die Berliner Blockade beendet und die Luftbrücke der Alliierten eingestellt. Für die Bewohner der ehemaligen Reichshauptstadt endete damit die Zeit des Hungerns, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen, sich mit nachkriegsbedingten Versorgungsengpässen fortgesetzt und sich schließlich aufgrund der Blokkadepolitik der Sowjets aufs äußerste verschärft hatte.

Hunger haben heißt, nicht wählerisch sein zu können. In dem Buch „Rosinenbomber & Brennesselsuppe. Das Berliner Notkochbuch“ hat die Journalistin Rosemarie Köhler Rezepte von Zeitgenossen oder aus Zeitschriften gesammelt, die Aufschluß darüber geben, was man damals gegessen hat: Puffer oder Chips aus gesäuberten Kartoffelschalen. Kaffee aus Gerste und Runkelrüben. Bonbons aus Haferflocken. Bratheringimitate aus gebratenen Quetschkartoffeln. Falschen Bienenstich aus Erbsenbrei und Zucker. Oder auch einen Margarineersatz aus einem Stoff, der aus einem Zwischenprodukt, das bei der Benzinverarbeitung entsteht, gewonnen wird. „Es hat geschmeckt, und wir haben uns richtig darauf gefreut“, berichten die Zeitgenossen.

Hunger heißt auch, anderer Leute Eigentum nicht mehr akzeptieren zu können und zu wollen. In das Kochbuch sind Erinnerungen und Tagebücher von Zeitzeugen eingestreut, quasi um den Rezepten einen passenden Beigeschmack zu verleihen. In diesen Berichten geht es immer wieder um „kleine“ Überschreitungen der Legaltität – Schwarzmarkthandel, Kohlenklau, Stibitzen bei Bäckern und in Küchen und schließlich sogar Abfalldiebstahl gehörten schließlich zur Tagesordnung.

Und Hunger macht selbstmörderisch. So berichtete die Presse, daß aus einer Bäckerei Säcke geraubt worden waren, vermutlich in der Annahme, sie enthielten Mehl. Tatsächlich jedoch handelte es sich um Gift.

Schon 1947 warnte der Tagesspiegel vor dem Verzehr des Gewächses Melde: „... an einigen hundert Personen wurde die sogenannte Meldekrankheit festgestellt. Die Patienten haben starke Ödeme im Gesicht und am Körper, und sie zeigen an den Stellen, die dem Licht ausgesetzt sind, graurote, teilweise auch mit Ekzemen verbundene Verfärbungen. [...] Es soll sich um eine ausgesprochene Hungerkrankheit handeln, die bisher nur bei chinesischen Bettlern beobachtet worden ist.“ Soweit dokumentiert das Buch das Leiden der BerlinerInnen während der Blockade.

Es zeigt aber auch, daß Hunger selbstgerecht und dumm macht. Durch alle Texte zieht sich der Vorwurf, daß sich die Besatzungsmächte nach immerhin sechs Jahren Krieg den besiegten Feinden gegenüber nicht so christlich verhalten hätten, wie es deutsche Truppen im Ausland sowieso nie getan haben. Wieder und wieder wird betont, wie exzellent die Amerikaner versorgt gewesen seien und wie wenig sie mit den Deutschen geteilt hätten. Einer kann sich sogar ganz süffisant daran erinnern, daß die im Dritten Reich Verfolgten bei der Vergabe der Lebensmittelmarken bevorzugt wurden.

Und das Blatt Roland von Berlin von 1947 steigert sich zu der unfaßbaren Frage: „Ob es aber zwischen Nordpol und Südpol viele Menschen gibt, die etwas trockenes Weißbrot als ein gutes Frühstück bezeichnen ...?“

Denn sie wußten nicht, was sie getan haben sollten. Ihr Gewissen war rein, ihre Selbstgerechtigkeit war ungebrochen. Krieg, Kriegsende und Hunger waren über sie gekommen wie das Gewitter über die Ochsenherde. Für nichts waren sie verantwortlich.

Es kam halt, wie es kam, und: „Scheißbesatzer!“ Die Berliner selbst waren und blieben einfach nur süße Engel. Mit einem niedlichen B davor. Jörg Sundermeier

Rosemarie Köhler: „Brennnesselsuppe & Rosinenbomber. Das Berliner Notkochbuch“. Eichborn Verlag, Berlin 1999, 230 Seiten, 29,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen