Berlin-Buch-Boom: Der Kaiser strahlt
■ „Heil Dir“ auf dem Teetischchen: Alfred Kerrs Berlinfeuilletons fühlen sich gut an
Dass der Großkritiker Alfred Kerr zu seiner Zeit ein ziemliches Arschloch war, ist bekannt. Als im letzten Jahr die Briefe des noch jungen Kritikers aus dem Jahrhundertwende-Berlin erschienen, war bei den Kritikern durchaus Begeisterung zu verzeichnen. Denn obwohl Kerr ein bornierter und selbstischer Autor ist, sind seine Betrachtungen außerordentlich detailliert und von keinerlei Kaisertreue geprägt.
Das liest sich dann so: „Sofort setzt der Kaiser den Helm auf, schreitet die Stufen herunter, und der Rundgang beginnt. Es sieht aus wie eine große Polonaise, vornweg Diener und Komiteemitglieder, eins immer beflissener und wichtiger als das andere, in der Mitte der Kaiser und die Kaiserin und Prinz Friedrich Leopold, der sehr vergnügt aussieht, dahinter der Hof, zum Schluss die Botschafter in ihren Maskenkostümen. Der Kaiser strahlt jetzt, er kommt aus dem Lachen nicht heraus und wird nicht müde, die vivat schreienden Anwesenden zu grüßen. Hochrufe, ununterbrochen, dazu Männergesang von oben. Orgelklänge, Heil Dir im Siegerkranz, nochmals hoch, hoch, hoch, der Kaiser entfernt sich wieder, er kehrt nach einem Weilchen zurück, hoch, hoch, hoch, Heil Dir im Siegerkranz, erneuter Rundgang, der Kaiser muss sich schier durch die Geladenen drängen, hoch. Hoch, hoch, Ferdinand lächelt verlegen, der Hofzug schreitet endgültig dem Ausgang zu, Heil Dir im Siegerkranz ...“
Die gleiche Dynamik, von der diese kleine Kaiser-Szene lebt, prägen auch Kerrs Stadtfeuilletons. Seine Betrachtungen zur Entwicklung des Kurfürstendamms, ein Bericht über die Einweihung eines Kaiserinnen-Denkmals oder schlicht die Beobachtung des Straßenverkehrs lässt einen beim Lesen immer wieder staunen: Berlin war offensichtlich schon immer eine restlos übertriebene Stadt, ihre Dimensionen waren kaum zu erfassen und ihre Geschwindigkeit berauschend.
All das war jedoch eben durch die Veröffentlichung der gesammelten Berlin-Briefe im vergangenen Jahr bereits hinlänglich bekannt. Warum der Aufbau Verlag jetzt in einem neuen Buch mit einer Auswahl aus den Briefen und einigen etwas lieblos dazuplazierten historischen Berlin-Fotografien aufwartet, ist darum verwunderlich.
Wie ein Berlin-Kompendium oder ein „Berlin um 1900“-Führer funktioniert der Band auf jeden Fall nicht, da die Briefe weder nach Straßen oder Plätzen geordnet sind und es auch kein Register gibt.
Und als Kerr-Brevier taugt es auch nicht: Fast so teuer wie die vollständige Ausgabe der Briefe, bringt dieses Buch gerade mal vereinfachte und gekürzte Fassungen der Texte, und die dazugelieferten Fotos sind kaum neu oder erhellend.
Sehr rätselhaft: Was also mag die Absicht sein, ein solches Buch auf den Markt zu werfen? Etwa in bester sozialistischer Tradition die Kaiserkritik auffrischen? Die Antwort ist einfacher: Das Buch liegt schön auf den Teetischchen, fühlt sich in Geschenkpapier gut an und hat so was herrlich Pittoreskes. Das ist doch mal was!
Jörg Sundermeier
Alfred Kerr: „Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole“. Aufbau Verlag, Berlin 1999, 168 Seiten, 29,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen