„Bentos Skizzenbuch“ von John Berger: Die Kunst, eine Zeichnung zu fahren
Welthaltiger Blick, luzide Vergleiche: Der Essayist John Berger hat mit „Bentos Skizzenbuch“ sein wohl persönlichstes Werk vorgelegt.
Wer in den siebziger Jahren „Ways of Seeing“ sah, schwärmt bis heute davon. Den Titel trugen damals eine TV-Serie John Bergers in der BBC und das dazugehörige Buch. Ob es um die Ästhetik des Zoos, die Malerei des Franzosen Jean-François Millet oder die Fotografie des Deutschen August Sander ging. Der Versuch des marxistischen Kritikers und Zeichenlehrers, für ein großes Publikum Kunst mit Politik und Geschichte zusammenzudenken, ist längst zu einem kanonischen Werk geworden. 1980 erschien es auch in Deutschland unter dem Titel: „Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens“.
Bergers Oeuvre ist seither auf weit über ein Dutzend Romane, Theaterstücke und kunsthistorische Essays gewachsen. „Bentos Skizzenbuch“, sein jüngstes Werk, ist nun das persönlichste Buch des inzwischen 85-Jährigen, der seit über 30 Jahren in einem kleinen Dorf in den französischen Alpen wohnt.
In dem neuen Werk stehen ganz private Reminiszenzen – eine geheimnisvolle Begegnung beim Schwimmen, die Erinnerung an seinen ersten Verleger, den unorthodoxen Kommunisten Ernst Frommhold aus Dresden oder an seinen Freund Luca aus Paris, einen Flugzeugingenieur – neben Alltagsbeobachtungen und Analysen. Immer finden sich in diesen kurzen, wunderbar beiläufigen Vignetten aber auch Bergers welthaltiger Blick und seine luziden Vergleiche.
Etwa wenn er die Ästhetik des Supermarkts als perfide Installation beschreibt, die die Besucher mit ihren überschaubaren Regalreihen und Überwachungskameras – im Gegensatz zum klassischen Marktplatz – „permanent unter Verdacht“ des Diebstahls stellt. Oder wenn er angesichts der globalen Finanz- und Demokratiekrise die „Gesichter der neuen Tyrannen“ als „kontrolliert, gepanzert, kugelsicher“ beschreibt.
Ästhetische Selbstvvergewisserung
In erster Linie ist das Werk aber die ästhetische Selbstvergewisserung eines künstlerisch begabten Essayisten. Berger hat das Buch nämlich nicht umsonst nach dem verlorengegangenen Skizzenbuch des von ihm besonders geschätzten niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza genannt – der den alternativen Namen „Bento“ trug.
Berger hat Leitsätze aus Spinozas „Ethik“ und eigene Texte und Zeichnungen zu einem poetologischen Kompendium zusammengestellt. In dem er darauf hinweist, dass Kunst und Literatur gleichermaßen die Zeit überwinden wollten. Bei seinen eigenen täglichen Zeichenübungen fasziniert den Theoretiker, „an so etwas wie einem körperlichen Vorgang“ teilzunehmen. Fast könnte man meinen, der Pionier der sozialhistorischen Ikonologie rede einer sensualistischen Wende das Wort, wenn er begeistert notiert, dass, wer zeichne, „nach einer Berührung mit etwas Ursprünglichem“ strebe.
Seine aus diesem Antrieb über die Jahre entstandenen Skizzen – Blumen- und Obstbilder, das 60 Jahre alte Fahrrad eines Freundes oder Aktstudien der befreundeten Tänzerin Maria Munoz – sind Zeugnisse eines etwas klassischen Realismus. Doch sie illustrieren Bergers Ästhetik des Ausprobierens und Korrigierens ebenso gut, wie seine Definition von Zeichnen als „eine Art Navigationsübung“ die Dualität von Körper und Geist bekräftigt, auf die Spinoza, der Bibelkritiker des 17. Jahrhunderts, hinauswollte.
Am schönsten gelingt seinem zeitgenössischen Bewunderer John Berger dieser Beweis, wenn der begeisterte Motorradfahrer die Spur seines Gefährts auf der Straße als „eine auf die Erde gezeichnete Linie“ deutet. Und daraus folgert: „Du fährst eine Zeichnung.“
John Berger: „Bentos Skizzenbuch“. Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes. Hanser, München 2013, 176 Seiten mit farbigen Abbildungen, 19,90 Euro
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