: Bei Kilometer 82 endet die Freiheit
Mit einer Fatwa gesteht die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen Mädchen und Frauen nur wenig Bewegungsfreiheit zu. Ohne Männer dürfen sie sich nur 81 Kilometer, das ist die Tagesreise einer Kamelkarawane, von der Wohnung entfernen
aus Köln AHMET SENYURT
Klassenfahrten – für Mädchen aus strenggläubigen muslimischen Familien ein heikles Thema. Häufig verweigern ihre Väter ihnen die Teilnahme, in unangenehmen Gesprächen müssen sie ihren Klassenkameradinnen erklären, warum sie zu Hause bleiben müssen, während diese sich amüsieren. Ihre Argumentationsnot hat ein Ende.
Wie der taz jetzt bekannt wurde, hat die höchste geistliche Instanz der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen (IRH) bereits 1998 in einer Fatwa, einem religiösen Gutachten, festgelegt: „Eine muslimische Frau darf sich niemals ohne Begleitung eines männlichen Verwandten auf eine mehrtägige Reise begeben, die sie 81 Kilometer oder noch weiter von der elterlichen oder ehelichen Wohnung wegführt.“
Theologisch leiten die Mullahs vom Main ihr Rechtsgutachten aus dem Koran ab. Sie bedienen sich dabei eines Rechtsverständnisses aus dem siebten Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung: Die Errechnung der 81 Kilometer leitet sich aus der Wegstrecke ab, die eine Kamelkaravane von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zurücklegen kann.
So bizarr die Fatwa auch anmutet, sie zeigt Wirkung. In Frankfurt haben Eltern bereits die Befreiung ihrer Töchter von Klassenreisen mit der Fatwa in der Hand beantragt. Der Kölner Jugendforscher und Islamexperte Reinhard Hocker befürchtet nun, dass sich die Schulleitungen und die Schulaufsicht von der vermeintlichen religiösen Kompetenz beeindrucken lassen.
Die IRH ist keine Exotengruppe, sondern ein Zusammenschluss von 10.000 konservativen Muslimen, deren Ziel die Entwicklung eines deutschen Islams ist. Sie ist Ansprechpartnerin für Politik, Behörden und Parteien und einige ihrer Rechtsgutachten hatten bereits vor deutschen Gerichten Bestand. Derzeit bemüht sich die IRH um die Erlaubnis zur Erteilung von islamischem Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Die Bielefelder Sozialarbeiterin Dilek Karaman, die Alphabetisierungsprogramme für muslimische Frauen betreut, ist der Meinung, die Fatwa sei zu begrüßen: „Sie ist eine Reaktion auf die Tatsache, dass unsere Schulen noch überhaupt nicht auf die Bedürfnisse muslimischer Mädchen vorbereitet sind.“ Die Bamberger Islamwissenschaftlerin Rotraud Wieland hält dagegen: „Sollte sich diese abenteuerliche Rechtsauffassung durchsetzten, käme es zwangsläufig zu gravierenden Verstößen gegen das grundgesetzliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts.“ Wieland hat im Auftrag des hessischen Kultusministeriums ein bislang unveröffentlichtes Gutachten über die IRH verfasst.
Scheik Bashir Dultz, Vorsitzender der Deutschen Muslimliga, übt Kritik: „Diese Fatwa entspricht den Gesetzen eines rein islamischen Staatswesens und steht nicht im Einklang mit dem Lebensalltag der Muslime in Deutschland.“ Die Bedeutung der Fatwa für gläubige Muslime ist vergleichbar mit der bindenden Kraft der päpstlichen Enzyklika für fromme Katholiken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen